Montag, 20. Juni 2011

Der Titan 2

Jedes der Fahrzeuge führte zweitausend und fünfhundert Liter Wasser mit sich. Die Feuerwehrmänner rollten nun unter dem Beifall der Menschenmassen die Schläuche aus und warfen die Pumpen an. Der Kommandant des Löschzugs baute sich vor dem riesenhaften Ude auf und blickte furchtlos empor: „Herr Oberbürgermeister… wir bringen Wasser damit sie uns nicht verdursten!“
Ude antwortete sichtlich erleichtert:
„Das kommt zur rechten Zeit…mein Lieber ich habe wirklich einen höllischen Durst.“ Daraufhin erteilte der Kommandant lautstark den Befehl: „Wasser marsch!“

Aus den aufgerollten Schläuchen spritzte nun das kühle Nass. Mit der rechten Hand schnappte sich Ude die vier Wasserschläuche, beugte seinen Kopf etwas seitlich nach unten, und spritzte sich das Wasser zur allgemeinen Belustigung der Menge direkt in den Mund. Im Nu aber waren die Tanks der Löschfahrzeuge völlig geleert. Bei Udes immensem Magenvolumen waren die zehntausend Liter nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Dennoch, die Erfrischung kam zur rechten Zeit und sein Höllendurst war fürs Erste gelöscht.
Schließlich richtete Dr. Mandarin das Wort an Ude. Er rief:
„Ich würde dir ja gerne den Blutdruck messen, aber das ist jetzt ja nicht mehr möglich. Stattdessen hielt ich es für wichtiger, das du erstmal zu Trinken bekommen hast. Mit Nahrung schaut es natürlich etwas schwieriger aus. Aber sei unbesorgt ich werde mich auch darum kümmern. Ich würde vorschlagen du hebst mich einfach mal hoch, dann muss ich nicht mehr so schreien, aber sei bitte vorsichtig!“

Ude kam der Aufforderung seines Leibarztes unverzüglich nach. Er beugte sich hinab und legte seine hohle Hand auf die Wiese direkt vor Dr. Mandarin und dieser kletterte hinein.
Ude hob ihn nun langsam und vorsichtig in die Höhe.
„Ich habe da einen gewissen Verdacht, weißt du… ich glaube, ja ich bin mir beinahe sicher der Kaktus an dem du dich heute Morgen gekratzt hast hat in irgendeiner Weise mit deinem riesenhaften Zustand zu tun.
„Der Kaktus? Du meinst…“
„Es ist nur so ein Gefühl… es muss irgendeinen Grund geben… ich meine man muss einfach alles in Betracht ziehen. Wir stehen vor einem Rätsel.“
„Ja, in der Tat… ich bin das Rätsel ich komme mir vor wie Gulliver der Riese oder wie Samson… ich fass es nicht.“

„Nein, du musst guten Mutes bleiben. In der Ruhe liegt die Kraft. Wir werden das schon wieder hinkriegen“, antwortete Dr. Mandarin sichtlich bemüht optimistisch zu klingen.
„Ich werde dir nun erstmal etwas Blut abnehmen, um es im Labor untersuchen zu lassen.“
Im nächsten Moment ritzte der Doktor auch schon mit einem Skalpell in die Handinnenfläche auf der er selbst saß, und füllte ein mitgebrachtes Reagenzglas mit dem Blut des Stadtoberhauptes.

„So, das hätten wir. Nun lass mich mal wieder runter, aber vorsichtig.“
Ude setzte seinen Leibarzt nun wieder wohlbehalten auf der Erde ab. Der Doktor sprang von Udes Hand und begab sich sofort zum Polizeipräsidenten der umringt vom bayerischen Ministerpräsidenten sowie Dr. Löffler, Herrn Himmelstoss und Frau Scheibenzuber angestrengt zu diskutieren schien.
„Herr Doktor was haben sie denn mit Ude besprochen. Wie sollen wir nun weiter vorgehen?“ Alle umringten nun neugierig Dr. Mandarin. Sie hingen an seinen Lippen, um nur ja jedes Wort zu hören, welches aus seinem Munde kam.
„Herr Polizeipräsident ich möchte sie bitten mir zwei Beamte mitzugeben, da ich sofort zurück ins Rathaus muss. Es geht darum herauszufinden was passiert ist. Ude hat nämlich heute Vormittag einen neuen Kaktus bekommen und sich später daran gestochen.

Zugegeben klingt reichlich unwahrscheinlich, aber wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen, da wir ja bis jetzt über keinerlei anderweitige Anhaltspunkte verfügen. Ich werde den Kaktus sofort in mein Labor bringen lassen, um ihn dort genauestens untersuchen zu können. Dr. Löffler sowie Herr Himmelstoss nickten.
„Was der Kaktus…den ich gebracht habe…ich kann aber nichts dafür!“, schrie Frau Scheibenzuber aufgeregt
„Beruhigen sie sich. Niemand hat ihnen einen Vorwurf gemacht“, erwiderte Dr. Löffler. Alle pflichteten ihm bei. Was allerdings Frau Scheibenzuber auch nicht davon abhalten konnte trotzdem in Ohnmacht zu fallen. Rettungssanitäter trugen sie auf einer Trage fort.

Der Polizeipräsident blickte nun Udes Leibarzt mit einem grimmigen Blick der wohl totale Entschlossenheit ausdrücken sollte in die Augen:
„Kein Problem Doktor. Sie bekommen jede Unterstützung von mir. Ich gebe ihnen vier Beamte von der SOKO mit und zwei Männer vom Technischen Hilfswerk. Nehmen sie den Hubschrauber, denn anders kommen sie ja nicht mehr durch. Wie soll das alles nur weitergehen?“, stöhnte der Polizeipräsident. Allgemeine Ratlosigkeit zeichnete die Gesichter der hohen Herren.

Mittlerweile war beinahe die gesamte Welt in hellem Aufruhr. China schickte eine Delegation hochrangiger Wissenschaftler. Ebenso die USA, Indien, Japan, Kanada, Australien, Russland, Frankreich und England. Auch im Vatikan war man auf das äußerste schockiert. Der amtierende Papst verstieg sich schließlich sogar zu der Behauptung, das Ende der Welt stünde nun unmittelbar bevor. Udes ungeheure Riesenhaftigkeit könne nur als ein sicheres Zeichen des Teufels gewertet werden. Dieser sei wohl in den armen Oberbürgermeister gefahren. Zugleich bot er aber auch seine Hilfe an – nämlich mehrere seiner besten Exorzisten.

Für Präsident Obama der mittlerweile am Münchner Flughafen gelandet war, stellte sich nun auch die Frage, ob denn der Termin wegen der Eintragung in das goldene Buch der Stadt München überhaupt noch zustande kommen würde. Er äußerte schließlich den Wunsch mit Ude auf jeden Fall sprechen zu wollen. Auch oder gerade trotz seiner Riesenhaftigkeit.
Sein Protokollchef hielt es jedoch für ratsamer davon lieber Abstand zu nehmen. Er meinte es gäbe keine guten Bilder, wenn Obama im Vergleich zu Ude als Zwerg in den Medien erscheinen würde. Schließlich sei der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika doch der mächtigste Mann der Welt. Obama dankte ihm für seinen Rat, meinte aber dennoch, man solle unverzüglich alles Notwendige für eine Unterredung arrangieren.

Dr. Mandarin war inzwischen mit dem Hubschrauber und vier Polizisten ins Münchner Rathaus zurück geflogen. Wie versprochen waren auch zwei Mann vom Technischen Hilfswerk mit dabei die einen stählernen Behälter mit sich trugen. Im Rathaus angekommen eilten sie die Treppen zu Udes Amtszimmer empor. Der Doktor stieß die Tür zu Udes Büro auf und lief zur Fensterbank. Er deutete auf den Schwiegermuttersessel an welchem sich Ude gestochen hatte:
„Packt diesen Kaktus da ein. Aber vorsichtig. Nur mit dicken Schutzhandschuhen bitte.“
Die Männer vom THW packten den stacheligen Kaktus vorsichtig in den mitgebrachten stählernen Behälter und in Begleitung der Polizisten gingen sie nun zu der Praxis von Dr. Mandarin hinüber. Dort angekommen zog sich der Doktor selbst die dicken Schutzhandschuhe über und holte den Kaktus wieder aus dem stählernen Behältnis. Er stellte ihn unter Infrarotlicht und verabschiedete dann die vier Polizisten sowie die Männer vom THW.

„Vielen Dank meine Herren sie können jetzt gehen. Das heißt die Praxis sollte natürlich unter Bewachung bleiben. Allerdings wären Beamte in Zivil besser dafür geeignet.“
Einer der Polizisten nickte zustimmend: „Ich werde das sofort veranlassen. Seien sie unbesorgt.“
Der Doktor widmete nun seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Kaktus. Er betrachtete ihn sorgfältig. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn. Was war los mit diesem Gewächs? Ude hatte sich am Morgen daran leicht gekratzt und die kleine Wunde hatte eine bläuliche Färbung bekommen. Die gleiche ungewöhnliche Färbung zeigten, wie auch schon am Vormittag, die Innenseiten der etwa dreißig Zentimeter hohen Rippen dieser stacheligen Pflanze.

Er nahm nun eine Einwegspritze und stach damit vorsichtig in den Kaktus. Dann zog er den Kolben zurück, sodass die Kanüle sich zusehends mit einer dunklen, ebenfalls leicht bläulich schimmernden Flüssigkeit füllte. Diesen Extrakt gab er in ein Reagenzglas und verschloss dieses auf das Genaueste.
Daraufhin verließ er die Praxis und ging zurück zum Marienplatz wo der Helikopter bereits auf ihn wartete.
Nachdem er hinein geklettert war startete der Pilot die Maschine und stieg mit lautem Getöse senkrecht empor, um dann in Richtung Norden zum Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching zu fliegen. Unter ihnen ein endlos scheinendes Meer von Menschen, die alle gekommen waren, um einen Blick auf den Titanen zu werfen.

Inzwischen überschlugen sich die Ereignisse im Englischen Garten. Eine lange Wagenkolonne bestehend aus insgesamt sechs gepanzerten Staatskarossen fuhr im Schritttempo durch die Menschenmassen. Flankiert wurden die schwarzen Limousinen von sonnenbebrillten drahtigen jungen Männern in dunklen Anzügen. Die Creme de la Creme des Secret Service. Aus einer der Limousinen entstieg schließlich der amerikanische Präsident.
Die Massen jubelten begeistert. Obama winkte ihnen nur einmal kurz zu bevor er selbst fassungslos zu dem riesigen Stadtoberhaupt von München hinauf starrte.
„Das… das… ist wirklich mehr als beeindruckend… das ist… das ist doch einfach unmöglich!“ stieß er hervor.

Ude hatte sich inzwischen hingesetzt um den Größenunterschied wenigsten wieder zu halbieren.
„Grüß Gott Herr Obama. Fragen sie mich bitte nicht, wie das passieren konnte. Ich kann diese Frage nämlich nicht mehr hören… ich weiß es nicht. Jedenfalls scheine ich nun in der Tat ein Riese zu sein.“
„Ja, das sehe ich“, stieß Obama im atemlosen Tonfall hervor.
„Ich begrüße sie hiermit jedenfalls auf das Herzlichste in unserer Landeshauptstadt München und bedauere zugleich diese unmögliche Situation, für die ich am Allerwenigsten kann… tut mir wirklich leid“, fuhr Ude fort.

„Kein Problem. So etwas hat zwar die Welt noch nicht gesehen, aber wir müssen mit dieser Situation irgendwie klar kommen. Ich meine damit alle. Denn die Welt wird denken Europa ist jetzt in der Lage Riesen herzustellen. Die Welt könnte zudem glauben, dass wir auch fähig sind Soldaten in dieser Größe herzustellen. Das könnte wiederum ein neues Wettrüsten ungeahnten Ausmaßes zur Folge haben. Und das wäre vielleicht nur ein kleiner Teil dessen, was sich vielleicht noch alles verändern könnte.“
Während Ude auf Obama hinab blickte um seinen Worten zu lauschen, bemerkte er gleichzeitig, wie im Rücken des amerikanischen Präsidenten plötzlich Bewegung in der Menge aufkam. Ein Mann mit roter Baseballkappe und cremefarbenem Sakko stürzte hervor. Sein ausgestreckter rechter Arm hielt eine großkalibrige Pistole. Er zielte damit auf Obama.

Aber aufgrund seiner einmaligen Übersicht erkannte Ude natürlich als Erster die bedrohliche Situation. Er hielt sofort seine rechte Hand schützend über Obama. Im gleichen Moment feuerte der Attentäter auch schon mehrere Schüsse auf den Präsidenten ab, die aber aufgrund der schnellen Reaktion von Ude keinerlei Schaden anrichteten. Die Kugeln prallten ohne jede Wirkung von Udes großem Handrücken ab und landeten völlig kraftlos auf der Erde.

Jetzt stürzte sich aber die erregte Menschenmenge auf den Attentäter den man daraufhin nie mehr zu Gesicht bekam. Später hieß es, die aufgebrachte Menschenmenge hätte ihn einfach tot getrampelt oder in Stücke gerissen. Jedenfalls tauchte er tatsächlich nie wieder auf. Der allgemeine Tumult nahm an Hektik nun stetig zu. Die ganze Stadt war im hellen Aufruhr. Von irgendwo her war ein merkwürdiges lang gezogenes Brüllen zu hören. Gerüchte von ersten Plünderungen, sowie unkontrollierten Gewaltexzessen machten ebenfalls die Runde. So grandios und einzigartig diese Situation auch war, manche Menschen drehten völlig durch. Für andere wiederum stand Ude der Riese plötzlich auf der Ebene eines Gottes.

Das normale Weltbild der vielen Menschen, ja beinah der gesamten Menschheit, die ja via Internet live an dem Ereignis teilnahm war urplötzlich ins Wanken geraten. Die Gesetze der Physik, die ansonsten ja unbestreitbar waren, wurden plötzlich alle ad absurdum geführt. Alle Fernsehsender strahlten Sondersendungen aus und riefen zur Besonnenheit auf. Über Megaphone wurden die Menschen immer wieder aufgefordert das außergewöhnliche Ereignis doch zu Hause am Fernseher oder Computer zu verfolgen und den Englischen Garten zu räumen. Doch jeder Appell war vergebens.

Schließlich flogen vier große lärmende Transporthubschrauber herbei aus denen sich Fallschirmjäger der Bundeswehr abseilten. Am Boden angelangt begannen sie die Menge brutal zurückzudrängen und bildeten schließlich einen schützenden Kordon um den Münchner Oberbürgermeister. Während unten das Chaos wütete saß Obama sicher in der hohlen Hand von Münchens Oberbürgermeister, da dieser ihn nach den Schüssen natürlich vorsorglich hochgehoben hatte, um ihn sofort aus der Gefahrenzone zu bringen. Was ihm auch hervorragend gelungen war. Natürlich war diese Aktion von Ude gegen den Willen der Leibwächter gewesen. Aber aufgrund seiner monumentalen Riesenhaftigkeit waren sie zu völliger Tatenlosigkeit verurteilt. Sie waren einfach machtlos.

„Was ist passiert?“, schrie Obama nun aufgeregt. „Das sollte wohl ein Attentat sein“, erwiderte Ude. „Ein Mann mit einer Pistole hat auf sie geschossen, aber er ist überwältigt worden. Die Gefahr ist nun vorüber“, antwortete Ude.
„Ein Attentat? Verdammt… da habe ich ja noch mal Glück gehabt. Vielen Dank Herr Ude.“
„Keine Ursache! Es war mir ein Vergnügen. Es hat also auch seine Vorteile ein Riese zu sein. Trotzdem wäre ich gerne wieder so groß oder besser gesagt so klein, wie ich heute Morgen noch war.“

„Ich kann es ihnen nachfühlen… es ist Unbegreiflich! Das muss eine andere Dimension sein. Vielleicht kann man es irgendwie rückgängig machen. Amerika steht jedenfalls fest an ihrer Seite!“, rief Obama fassungslos.
„Ich danke ihnen“, erwiderte Ude.
Der Präsident stand nun in der hohlen Hand von Ude und ließ staunend und erfreut zugleich seinen Blick umherschweifen. Da er keine Höhenangst kannte genoss er den herrlichen Ausblick über München mit samt seiner beeindruckenden Alpenkette.
„Die Lage hat sich anscheinend wieder beruhigt“, sagte Ude schließlich, „wenn sie wollen dann lasse ich sie jetzt wieder runter!“
„Ja gut!“ rief Obama, „und vielen Dank noch mal.“
Wieder auf dem Erdboden angelangt, begann Obama sofort Gespräche mit dem Stadtratrat und den Mitgliedern der Bayerischen Staatsregierung, die sich ebenfalls alle innerhalb der Bannmeile befanden.

Ude fühlte sich nun plötzlich wieder sehr verloren. Viele Gedanken quälten ihn. Wie war ein Weiterleben, ja eine Existenz als Titan in Zukunft möglich? Er dachte an die Worte seiner Frau. Was sollte er essen? Wie sollte er sich kleiden? Konnte er denn in diesem Zustand das Amt des Oberbürgermeisters überhaupt noch ausüben? Wie sollte er an Sitzungen teilnehmen? Fragen über Fragen. Aber noch war er der Bürgermeister. Er musste also das Heft in der Hand behalten. Aber wie sollte er vorgehen?

In der Münchner Frauenkirche hielt der Erzbischof von München Freising eine flammende Rede. Er bezog in aller Deutlichkeit Stellung gegen die Sektierer, die in dem Münchner Stadtoberhaupt plötzlich so etwas wie einen Gott erblickten, und verurteilte dieses auf das Schärfste. Seiner Meinung nach handelte es sich bei diesem seltsamen Ereignis in Wirklichkeit um einen Terroranschlag von geradezu teuflischer Präzision. Mit Nachruck rief er die anwesenden Gläubigen dazu auf sich an die zehn Gebote zu halten und im Besonderen das erste Gebot zu beachten, welches da lautet:
„Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Er bekräftigte noch einmal, eine Zuwiderhandlung gegen dieses göttliche Gebot sei eine Sünde wider den Herrn. Ein wahrer Christ verfüge über die Fähigkeit durch die Kraft seines Glaubens jeglichen Versuchungen zu widerstehen, seien sie auch noch so groß.
Wer im Angesicht Gottes, dem jeder Christ am Jüngsten Tage unweigerlich gegenüber treten muss, bekennt, dass er einem fremden Gott gehuldigt hat, der wird in die ewige Verdammnis gestoßen werden. In das gierige Höllenmaul wo hässliche Teufel, monströse Schlangen und faulige Dämonen bereits auf ihn warten, um ihn auf ewig gnadenlos zu quälen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Diejenigen aber, die im Angesicht der Versuchung standhaft geblieben sind, wird der Herr weiden auf grünen Auen. Sie werden auferstehen und eingehen in das ewige Himmelreich. Und dort wird Milch und Honig fließen.

Dicht gedrängt standen die Menschen in dem riesigen Kirchenschiff und lauschten angestrengt den Worten ihres Oberhirten. Für kurze Zeit hatten sie doch tatsächlich die Orientierung verloren. Große Zweifel waren bei dem Einen oder Anderen aufgekommen. Wenn so etwas passieren konnte, war das nicht doch ein Zeichen des Himmels?
Doch nun waren sie wieder gestärkt in ihrem Glauben. Grelles Sonnenlicht strahlte diagonal durch die hohen Kirchenfenster. Myraden von Staubpartikeln tanzten im hellen Licht. Die mahnenden Worte des Bischofs hatten ihre aufwühlende und somit stärkende Wirkung nicht verfehlt. Hoch oben in den welschen Türmen der Münchner Frauenkirche läuteten die Glocken Sturm. Das Christentum zeigte deutlich Flagge.

Im Max Plank Institut in Garching bei München war inzwischen eine heftige Diskussion unter den Mitgliedern der Task Force mit dem Namen UDE 01 entbrannt. In dem gläsernen Konferenzraum des dreistöckigen Gebäudes hatten sich inzwischen bedeutende Vertreter der verschiedensten Fachgebiete eingefunden. Darunter bekannte Koryphäen der Nuklear Medizin, Psychologie, Biologie, Informatik, Neurologie, Philosophie, Radioonkologie, Strahlentherapie, Infektiologie, Virologie, Molekulargenetik und der Gentechnologie.
Beim Eintreffen von Dr. Mandarin erhoben sich die Herren, um anschließend wieder Platz zu nehmen. Die Diskussion entbrannte erneut. Nach einer Stunde jedoch verließ Udes Leibarzt leicht genervt den Konferenzraum, um seine Mutter in Brüssel anzurufen.

Sie war natürlich bereits informiert aufgrund der weltweiten Berichterstattung aller Nachrichtenagenturen. Sie meinte deshalb nur lapidar – sie hätte zwar mal von Riesen gehört die plötzlich zu Zwergen wurden und von Zwergen die plötzlich zu Riesen mutierten. Ein Onkel habe ihr auch mal erzählt, dass diese Art der Größen Veränderung immer mit der Aura des jeweiligen Menschen zu tun habe. In so einem Fall sei immer etwas ins transzendentale Ungleichgewicht geraten. Am Besten wäre daher, erst einmal abzuwarten, ob dieser Zustand sich manifestiert oder vielleicht sogar von selbst wieder abklingt. Weiterhin meinte sie die plötzliche Riesenhaftigkeit würde ja die Macht des Stadtoberhauptes nur noch mehr stärken. Im Grunde wäre es sogar von Vorteil, obgleich zugegeben, ein Leben in sozialer Gemeinschaft in Zukunft nur schwer möglich sein dürfte.

Dr. Mandarin fragte schließlich noch, ob es denn irgendeinen Weg geben würde, um den Riesen wieder zum Menschen zu machen. Seine Mutter meinte daraufhin die alten Azteken hätten in so einem Fall den Göttern noch mehr Menschenopfer dargebracht. Da diese Möglichkeit aber definitiv nun Mal nicht bestand, beendete Udes Leibarzt schließlich das unergiebige Gespräch mit seiner Mutter, und ging ratlos in den Konferenzraum zurück.

Dort angekommen dozierte gerade ein Psychologe über die wahre Größe der menschlichen Psyche, die in diesem Fall anscheinend über ihren eigenen Schatten gesprungen sei, und sich in gewöhnliche Materie manifestiert habe. Ihm sei weiterhin bekannt, dass Ude schon als Kind den Wunsch geäußert habe später einmal Bürgermeister zu werden. All sein unbewusstes Denken, Streben und Handeln war also seit jenem denkwürdigen Entschluss in diese Richtung gegangen. Und es war ihm tatsächlich gelungen eine großartige Karriere hinzulegen. Ohne jeden Zweifel auch zum Wohle der Stadt München.
Darüber hinaus bot der Psychologe auch noch an eventuell mit Ude ein Gespräch zu führen, um erstmal eindeutig abklären zu können in welchem Maße denn überhaupt Therapiebedarf bestehe.

Der Physiker und der Nuklearmediziner kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass sich anscheinend Kohlenmonoxid-Moleküle mit elektrischen Feldern vereinigt haben müssten und auf diese Art ein abnormes Zellwachstum entstanden sei. Mann müsse sofort Udes Blut untersuchen, um anschließend mittels eines Detektors eventuelle Veränderungen im Blut nachweisen.
Darauf ergriff Dr. Mandarin wieder das Wort:
„Meine Herren eine von mir persönlich entnommene Blutprobe des Oberbürgermeisters ist bereits im Labor und wird analysiert. Allerdings nicht auf etwaige Verbindungen von Kohlenmonoxid-Molekülen mit elektrischen Feldern. Ich werde das aber sofort veranlassen. Das gleiche gilt natürlich auch für den Extrakt, dem ich den Kaktus entnommen habe.“

Ihm erschienen die Naturwissenschaften seit jeher pragmatischer, als diese oftmals doch sehr konfusen Gedankengebilde der Geisteswissenschaften. Dennoch meinte nun der Philosoph sagen zu müssen, eine metaphysische Erhöhung im Denken von Ude könne durchaus auch zu einer relevanten Größenveränderung geführt haben. Dann wollte er auch noch Schopenhauer und dessen Werk: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ bemühen, doch Doktor Mandarin schnitt ihm nun brüsk das Wort ab:
„Meines Erachtens sollten wir uns hier nicht in theoretischen Exkursen verlieren. Oberste Priorität muss der Gesundheitszustand des Oberbürgermeisters sein. Das heißt, wie können wir ihn ausreichend mit Nahrung versorgen. Das Gebot der Stunde ist es deshalb ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, um eine Versorgung mit Lebensmitteln für die Zukunft sicherzustellen. Denn keiner von uns kann sagen ob Ude jemals wieder so sein wird wie er vorher war. Ich kann nur hoffen, dass uns die Laborbefunde weiter bringen werden. Die Analysen sind im vollen Gange. Erste Ergebnisse werden wir voraussichtlich gegen zwanzig Uhr bekommen. Herr Himmelstoss sie kümmern sich um die Presse. Bleiben sie einfach bei der Wahrheit… sagen sie also wie es ist. Nämlich das wir nicht wissen, was da passiert ist. Dr. Löffler darf ich sie bitten sich um die Logistik bezüglich der Nahrungsaufnahme zu kümmern. Wenden sie sich an die Bundeswehr oder an alle Kantinen und Großküchen in München und Umgebung.“

Dann wandte er sich wieder an die versammelten Wissenschaftler aus aller Herren Länder:
„Meine Herren! Die Task-Force wird rund um die Uhr tagen und wir werden eine Lösung finden. Dessen bin ich mir ganz sicher.“

Dann ging er selbst ins Labor. Er ordnete eine größere Versuchsreihe an. Insgesamt sollten zehn Mäuse mit dem Extrakt aus dem Kaktus infiziert werden. Der Test sollte natürlich im Freien stattfinden für den Fall, dass eine von den Versuchsmäusen ebenfalls riesengroß werden würde. Für diesen Extremfall standen zwei Panzer bereit, ausgerüstet mit hundertzwanzig Millimeter Glattrohrkanonen. Diese sollten die Maus noch im Anfangsstadium, also bevor sie riesengroß werden würde, sofort in Stücke schießen.

Im Englischen Garten war es mittlerweile gegen Abend und ein Teil der Menschenmassen war langsam des Spektakels überdrüssig geworden. Als jedoch im Biergarten am Chinesischen Turm auch noch das Bier ausging, kochte die Volksseele hoch. Die enthemmte Menge fing an zu randalieren. Ja, sie explodierte förmlich. Wie bei einem Vulkan ergoss sich die geballte Aggression der Durstigen wie glühende Lava über das gesamte Gelände des weitläufigen Biergartenareals.

Die Massen zertrümmerten in überschäumender Wut die komplette Einrichtung. Selbst der fünfundzwanzig Meter hohe Chinesische Turm, der siebzehnhundertneunzig – nach einem Entwurf von Joseph Frey und Johann Baptist Lechner errichtet worden war – musste dran glauben. Alles wurde kurz und klein geschlagen bis schließlich wieder ein Rollkommando der bayerischen Bereitschaftspolizei in gewohnter Manier für Ruhe und Ordnung sorgte. Doch die normale Ordnung war nicht wieder herzustellen. Es herrschte Ausnahmezustand, ohne dass dieser seitens der Behörde ausgerufen worden war.

Die Schwüle wurde langsam unerträglich und der Himmel über München hatte sich mittlerweile bedrohlich verdunkelt. Die Schatten wurden immer länger und der Himmel nahm zeitweilig die Farbe türkisgrünen Wassers an. Riesige Unheil verkündende Kaskaden von jählings sich auftürmenden Wolken jagten einander. Orkanartige Windböen fegten völlig losgelöst umher und entwurzelten zahlreiche Bäume deren dicke Äste ungewollt als Todesboten fungierten. Die Menschen schrieen, einige wurden erschlagen oder schwer verletzt. Die Naturgewalten ließen in einem beeindruckenden Akt der Überlegenheit gnadenlos ihre brachialen Muskeln spielen.

Ein Gewitter ungeheuren Ausmaßes kündigte sich auf diese Weise an. Zudem war ein seltsames Grollen zu vernehmen, aber keiner wusste genau woher es kam oder was es bedeuten sollte. Es schien jedoch nichts mit dem sich anbahnenden Unwetter zu tun zu haben.
Ein riesiger Schwarm Krähen flog plötzlich herbei und schien Ude zu begutachteten. Sie umkreisten ihn mehrere Male. Sie wägten wohl ab, ob sie sich auf ihm niederlassen sollten, zogen es dann aber doch lieber vor weiter zu ziehen.
Ude selbst hatte die letzten Stunden damit verbracht immer wieder mal wagemutige Münchner in seiner hohlen Hand hoch zu heben damit diese auch den herrlichen Ausblick genießen konnten. Es wurde dazu immer eine Gruppe von zwanzig Personen in den Sperrkreis vorgelassen die geduldig wartete, bis sie an der Reihe waren.

Das Grollen ja beinahe Brüllen wurde nun immer noch lauter. Als erster bemerkte natürlich Ude selbst, dass dieses merkwürdige Knurren von ihm selbst kam. Es war nämlich sein Magen, der sich hungrig wie er nun einmal war, knurrend zu Wort meldete, da er ja seit sieben Uhr morgens – um diese Zeit pflegte Ude immer sein Frühstück einzunehmen – nichts mehr gegessen hatte. Das Rumoren seines leeren Magens nahm beinahe apokalyptische Ausmaße an und wurde schließlich auch noch von dem tatsächlichen Donner des herannahenden Gewitters untermalt.

Dadurch aber hatten es die vielen Schaulustigen schließlich doch wieder mit der Angst bekommen und plötzlich wollte keiner mehr von Ude hochgehoben werden. Im Gegenteil die Menge mied ihn plötzlich wegen der bedrohlichen Geräusche. Außerdem natürlich auch wegen der Tatsache, dass bei einem Gewitter Ude aufgrund seiner Riesenhaftigkeit bestimmt einen Blitz auf sich ziehen würde. Denn bei seiner Größe war diese Vermutung sicherlich nicht unberechtigt. Dr. Löffler eilte herbei und versicherte seinem Chef er werde alles tun, um ihn bald möglichst mit Nahrung zu versorgen. Im nächsten Moment aber donnerte und blitzte es, als wäre wirklich das Ende der Welt gekommen. Grelle Blitze zuckten bedrohlich aus den schweren dunklen Wolken. Die Menge schrie auf und suchte ihr Heil in der Flucht. Ude setzte sich wieder hin und versuchte verzweifelt sich so klein wie möglich zu machen um nur ja nicht von einem Blitz getroffen zu werden. Doch es war bereits zu spät. Ein kugelförmiges Leuchtgebilde schlug mit einem lauten Knall in den armen Oberbürgermeister ein. Aber zum Erstaunen aller, und das waren ja nicht gerade Wenige, stand Ude plötzlich auf breitete die Arme aus, und stieß einen gellenden Schrei aus.

Seltsamerweise aber bildete sich nun um seinen gesamten Körper ein weißer Strahlenkranz, der anscheinend die Funktion eines Blitzableiters ausübte. War das etwa ein Schutzschild oder ein geheimnisvolles Energiefeld, welches Ude vor dem Schlimmsten bewahrte oder handelte es sich dabei um eine undurchdringliche Aura, die letztendlich auf einer Katalysatorfunktion beruhte.
Jedenfalls gab es plötzlich wieder einen schrecklich lauten Knall, der dem eines Überschallflugzeuges glich, und die riesenhafte Gestalt von Ude war urplötzlich von einer riesigen bernsteinfarbenen Wolke umhüllt, sodass er überhaupt nicht mehr zu sehen war. Grelle zackige Blitze zuckten aus der Wolke. Sintflutartiger Regen setzte ein.

Nachdem der alles ins Vergessen stürzende Regen endlich wieder nachgelassen hatte und man langsam wieder etwas sehen konnte traute Dr. Löffler seinen Augen nicht. Sein Chef lag rücklings mit ausgestreckten Armen auf der überfluteten Wiese. Er war aber nun kein Riese mehr. Er hatte anscheinend wieder normale Gestalt angenommen, aber offensichtlich war er bewusstlos. Die Leute die sich innerhalb des Sperrkreises aufhielten eilten aufgeregt herbei.
Dr. Löffler und Herr Himmelstoss hoben Ude nun gemeinsam hoch und legten ihn behutsam in den Fond einer gepanzerten Limousine. Als jedoch mehrere Sanitäter sowie zwei Ärzte herbei eilten um Erste Hilfe zu leisten erwachte Ude plötzlich aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit.
Sofort begann er freudig lauthals zu schreien: „Ich bin wieder normal groß! Ich bin kein Riese mehr. Ich kann es noch gar nicht glauben… Ich…!“
„Ja, sie haben es geschafft der Spuck ist vorbei!“ schrie Dr. Löffler.

Auch Obama umringt von glatzköpfigen Bodyguards eilte herbei.
„Das ist ja fantastisch!“ rief er aus, „dann kann ich mich ja doch noch in das goldene Buch der Stadt München eintragen.“
„Ja, sie sagen es… das Protokoll. Gute Idee.“ erwiderte Ude. Steigen sie ein, wir fahren sofort zum Rathaus. Herr Himmelstoss veranlassen sie alles und besorgen sie mir was zum Anziehen und sagen sie meiner Frau Bescheid. Sie soll sofort ins Rathaus kommen.“
Anschließend machte sich der Konvoi auf den Weg zum Marienplatz. Die Menschenmassen hatten sich zwischenzeitlich so gut wie aufgelöst. Das heftige Gewitter sowie der sintflutartige Regen hatten natürlich nicht unwesentlich mit dazu beigetragen. Im Rathaus angekommen zog sich Ude kurz in die Pförtnerloge zurück, um die dort für ihn bereitliegende Kleidung anzuziehen und begab sich anschließend in seine geliebte Kantine um dort erstmal wie gewohnt sein Geschnetzeltes zu essen.

Hier ließ es sich seiner Meinung nach nämlich noch immer am besten speisen. Er zog die Kantine allen umliegenden Restaurants vor, und das waren nicht gerade wenige. Auch Obama gönnte sich ein saftiges Schnitzel mit Pommes. Nach dem Essen ging man dann hoch um endlich die überfällige Eintragung in das goldene Buch der Stadt München vorzunehmen.
Im grellen Blitzlichtgewitter der anwesenden Pressemeute nahm Obama freudig lächelnd den goldenen Stift aus der Hand des Oberbürgermeisters entgegen, und schrieb in das goldene Buch, dass dieser Tag für ihn immer in unvergesslicher Erinnerung bleiben werde.

In der anschließenden Pressekonferenz erklärte Ude auf die stürmischen Fragen der zahlreichen Reporter, dass er im Moment nicht in der Lage sei zu dem unglaublichen Ereignis des heutigen Tages Stellung zu nehmen. Er sei aber froh wieder der Alte zu sein und werde in den nächsten Tagen, wenn er sich von dem Schock erholt habe, ausgiebig alle Fragen beantworten.
Schließlich kam Tumult auf. Im grellen Blitzlichtgewitter stürmte Udes Frau in Begleitung von Dr. Mandarin sowie Herrn Himmelstoss und Dr. Löffler in den Raum. Seine Gattin warf sich sofort auf ihren Mann und beide umarmten sich auf die allerherzlichste Art und Weise. Alle Anwesenden waren tief berührt und klatschten begeistert Applaus.

Am nächsten Tag – Obama war inzwischen abgereist – saß Ude wieder hinter dem großen Schreibtisch in seinem Amtszimmer und versuchte den gestrigen Tag irgendwie rational einzuordnen. Der Marienplatz war immer noch abgesperrt, sodass es draußen ungewöhnlich ruhig war. Doch es gelang ihm nicht wirkliche Klarheit in seine Gedankengänge zu bringen. War er tatsächlich ein Riese gewesen? Ein wahrer Titan. Er konnte und wollte es einfach nicht wahrhaben. Doch die Videos im Internet sowie das vielfältige Bildmaterial, die Millionen Augenzeugen, ja die ganze Welt, all das war ja Realität. Daran gab es keinen Zweifel. Schließlich konnte soviel Beweismaterial nicht einfach gefälscht sein. Vor allem nicht in so kurzer Zeit.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Tür aufgerissen und Dr. Mandarin stürmte herein. Dadurch wurde Ude sehr zu seinem Leidwesen jählings aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte mit großen Augen auf seinen Leibarzt, brachte jedoch keinen Ton heraus.
„Weißt du was? Du hast verdammt noch mal großes Glück gehabt!“, rief Dr. Mandarin aufgeregt.
„Wie bitte…?“ entgegnete Ude völlig entgeistert.
„Ja, in der Tat… du hattest verdammt noch mal viel Glück im Unglück. Ich habe nämlich gestern noch eine große Versuchsreihe gestartet. Die Versuchsanordnung war Folgende: Wir haben zehn gewöhnliche Labormäuse mit dem Extrakt aus dem Kaktus infiziert und weißt du was passiert ist?“
„Nein… woher sollte ich das wissen. Aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.“
„Ja, ich werde es dir nun sagen. Das Ergebnis war, dass alle Mäuse nacheinander total winzig wurden. Sie haben jetzt alle die Größe einer gewöhnlichen Stubenfliege.“
„Interessant. Aber warum habe ich dann Glück gehabt?“, entgegnete Ude.

Na, ganz einfach. So wie es scheint hat der Kaktus irgendeine Kraft in sich, um Gegenstände entweder riesengroß zu machen oder total klein. Nach was für einem System das Ganze funktioniert wissen wir natürlich immer noch nicht. Ich vermute einen Fluch oder irgendeine Zauberei. Das ist und bleibt bis jetzt unerklärlich. Dein Glück war, dass du Erstens riesengroß geworden bist, und Zweitens, dass das Unwetter und der dadurch entstandene Kugelblitz bei dir offensichtlich eine Entladung bewirkt haben, die dich Gott sei Dank wieder auf Normalgröße reduziert hat. Wärest du winzig klein geworden, also Stubenfliegengröße, dann hätte dieser Entladungsvorgang so nicht stattfinden können.“

„Ich verstehe… ich hätte dann jetzt immer noch die Größe einer Stubenfliege und wahrscheinlich sogar für alle Zeiten!“
„Genau so ist es. Was auch immer passiert ist, das Unwetter war also ein Glücksfall für dich. Denn ohne Gewitter kein Kugelblitz somit keine Entladung und damit keine Schrumpfung deiner Person auf Normalgröße. Eine Stubenfliege wurde ja schließlich noch nie von einem Blitz getroffen. Oder hast du so etwas schon einmal gehört?“
„Nein, das dürfte wohl absolut unmöglich sein. Du hast Recht“, antwortete Ude mit leicht gerunzelter Stirn.

Im nächsten Moment stürmte Herr Himmelstoss in den Raum. Der Referent erinnerte das Stadtoberhaupt daran, dass für fünfzehn Uhr eine außergewöhnliche Stadtratssitzung vereinbart war.
„Jessas! Die Sitzung, die hätte ich doch glatt vergessen. Da sehen sie mal Herr Doktor wie es um mich steht. Das wäre mir früher nie passiert.“
„Beruhigen sie sich dafür bin ich ja da. Sie glauben ja gar nicht wie froh ich bin, dass der Spuk nun endlich vorbei ist und sie wieder der Alte sind“, erwiderte Herr Himmelstoss im erleichterten Tonfall.
Dr. Mandarin entgegnete, das er leichte Zweifel habe ob Ude schon wieder ganz der Alte sei, aber mit Sicherheit sei er auf gutem Weg dazu.

Anschließend gingen sie gemeinsam in das alte Rathaus hinüber um an der außerordentlichen Stadtratssitzung teilzunehmen.
Dort angekommen beschuldigte die Opposition Ude geradewegs der Hexerei, worauf dieser trocken konterte: „Das Zeitalter der Inquisition sei nun aber wirklich vorüber.“
„Ich an ihrer Stelle wäre mir da nicht so sicher!“ schrie ein wütender Opponent.
Die Stimmung im Saal war auf eigentümliche Art und Weise vergiftet. Das unglaubliche Ereignis des gestrigen Tages zeigte nun katastrophalen Folgen.

Udes Autorität war erheblich angekratzt. Man nahm ihn oder besser gesagt, man konnte und wollte ihn einfach nicht mehr ernst nehmen. Ein Mensch, der in der Lage war urplötzlich so groß wie der Münchner Rathaus Turm zu werden, dem war in letzter Konsequenz ja alles zuzutrauen. Sowohl im Positiven, wie auch im Negativen. Und auch Ude selbst war einfach nicht mehr derselbe, der er früher einmal gewesen war. Zudem wurden er und seine gesamte Familie von allen Seiten unentwegt bedrängt und bestürmt. Andauernd wurden Fragen gestellt, sodass die Familie einfach kein stressfreies Leben mehr führen konnte.

So zog sich die gesamte Familie erstmal zurück. Nach Mykonos zu fliegen erschien jedoch aussichtslos angesichts der Menschenmengen, die dort bereits ungeduldig auf Münchens Oberbürgermeister warteten. Wo also hin? Da kam Udes Frau auf die scheinbar rettende Idee erstmal in Tirol unterzutauchen. Doch leider wurde Ude auch dort sofort erkannt. Der rettende Ausweg war schließlich eine sündteure Gesichtsmaske, eine Art zweiter Haut aus Silikon, die ihn tatsächlich fürs Erste völlig unkenntlich machte.

An ein früheres Leben war aber nun in keiner Weise mehr zu Denken. Das Allerschlimmste jedoch war die neue Sekte, die Ude doch tatsächlich zum Gott erklärt hatte. Die Udeaner. Sie hatten das Udentum ausgerufen. Bürgerkriegsähnliche Umstände bahnten sich an. Auch der Islam fühlte sich auf den Schlips getreten: „Was, schon wieder eine neue Religion? Mit uns nicht!“
Ude versuchte anfangs noch über die Medien und auch in persönlichen Pressekonferenzen beschwichtigend auf die erregten Gemüter einzuwirken, doch dadurch wurde alles noch viel schlimmer. Ein Wespennest bar jeglicher Vernunft.

Nach wochenlangen endlosen Diskussionen im engsten Familienkreis, wohin man den gehen sollte, um all diesem Wahnsinn im alten Europa ein für allemal zu entfliehen beschloss die Familie Ude nicht zuletzt auch auf Anraten von Dr. Mandarin sich auf der Insel St. Helena niederzulassen. Eine Tante von Udes Leibarzt unterhielt auf dieser Insel im südlichen Atlantischen Ozean seit langem eine gutgehende Taubenzucht.

So kam es, dass Münchens Oberbürgermeister seinen wohlverdienten Lebensabend glücklich und zufrieden auf St. Helena verbrachte. Einmal im Monat, gönnte er sich immer um die gleiche Zeit, einen Besuch im St. Helena Museum.

Ende

© 2009 J. Bambulie

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Follower