Der Titan 1

Montag, 20. Juni 2011

Der Titan 1

Der Titan 1

In dieser Geschichte wird Münchens Oberbürgermeister Christian Ude plötzlich so groß wie der Münchner Rathausturm. Chaos bricht aus.
Die Bilder gehen um die Welt. Zu allem Unglück besucht auch noch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Barack Obama genau an diesen verhängnisvollen Tag die Stadt München, um sich in das goldene Buch der Stadt einzutragen.


Um neun Uhr morgens betrat Münchens Oberbürgermeister sein Arbeitszimmer im Rathaus. Der Urlaub auf Mykonos war wieder einmal vorüber. Kaum hatte er jedoch in seinem Sessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch Platz genommen, klopfte es auch schon an die Tür.
„Ja, Bitte!“ rief Herr Ude.
Die Tür seines Arbeitszimmers öffnete sich einen Spaltbreit und ein rundes lachendes Gesicht mit einer fast perfekten Föhnfrisur lugte herein:
„Grüß Sie Gott. Ich bin es Frau Scheibenzuber. Ich bringe den neuen Kaktus. Sie wissen schon, der hätte doch schon vor einer Woche kommen sollen. Eigentlich wollte ich ihn ja…“
„Grüß Gott Frau Scheibenzuber! Ja, der Kaktus richtig. Kommen sie nur herein…“, antwortete Herr Ude. Gleichzeitig stand er auf und ging zur Tür, um ihr behilflich sein zu können.
„Lassen sie mal sehen… Aha! Ein echter Echinocactus grusonii. Im Volksmund einfach Schwiegermutterstuhl genannt und was für ein schönes Exemplar!“, rief Herr Ude bewundernd aus, während er voller Neugier auf die stachelige Pflanze blickte.
“Stellen sie ihn doch bitte erstmal hierher auf den Schreibtisch.“

„Wissen sie… Herr Ude! Letzte Woche ist mir doch glatt etwas dazwischen gekommen, sodass ich es vor ihrer Rückkehr aus dem Urlaub nicht mehr rechtzeitig geschafft habe.“
„Kein Problem Frau Scheibenzuber… das macht gar nichts. Hauptsache der Kaktus ist jetzt da. Der passt nämlich sehr gut zu meiner Sammlung. Ich hoffe nur ihnen ist nichts wirklich Schlimmes dazwischen gekommen?“
„Eine Zecke hat mich gebissen, deswegen war ich beim Doktor, und der hat mir gleich eine Spritze verpasst.“
„Ja, da haben sie richtig gehandelt. Mit so etwas spaßt man nicht. Gleich zum Fachmann, das ist das Beste!“
„Und wie war’s auf Mykonos?
„Herrlich! Wie jedes Jahr… aber die Termine drängen nun mal. Und wenn man nicht aufpasst, dann kann es einem doch glatt passieren, dass man noch zum Sklaven des eigenen Amtes wird“, erwiderte Herr Ude lachend. Erneut klopfte es an der Tür und sein persönlicher Referent Herr Himmelstoss, ein Mann im dunkelblauen Anzug, betrat das Amtszimmer.

„Guten Morgen Herr Ude. Guten Morgen Frau Scheibenzuber…. äh… ich hätte da etwas Wichtiges mit ihnen zu besprechen Herr Ude…“
„Ja, ich bin schon wieder weg…“, meinte daraufhin Frau Scheibenzuber blitzschnell die Situation erkennend und fügte hinzu: „also Herr Ude, wenig Wasser nur einmal im Monat gießen und viel Sonne. Aber wem sag ich das, sie sind ja der Fachmann.“
„Aber Frau Scheibenzuber stellen sie ihr Licht doch nicht immer unter den Scheffel“, erwiderte Herr Ude sichtlich belustigt.
Anschließend verabschiedete sie sich per Handschlag von den beiden Herren und verließ das Büro.

„Setzen wir uns“, sagte Herr Ude nun zu Herrn Himmelstoss.
„Stört sie der Kaktus?“ „Nein überhaupt nicht, ein wirklich schönes Exemplar“, antwortete dieser elegant und fügte bedeutungsvoll hinzu, „Herr Ude stellen sie sich vor… gerade eben habe ich erfahren, dass Obama München besuchen will.“
„Was Obama?“
„Ja, die Meldung gibt es natürlich offiziell noch gar nicht, aber es ist trotzdem so gut wie sicher. Löwitz hat es mir erzählt. Er hat eine seiner zahlreichen Quellen angezapft. Er meint die US Administration würde das wahrscheinlich in den nächsten vierundzwanzig Stunden offiziell verlautbaren lassen.“
„Das wäre ja eine tolle Sache, antwortete Herr Ude sichtlich angenehm überrascht. „Obama besucht München, das ist ja mal eine gute Nachricht Meyerbeer!“, rief Münchens Oberbürgermeister und klopfte sich begeistert auf beide Schenkel.
„Löwitz hat es ihnen erzählt?“
„Ja, Löwitz.“
„Auf den ist ja für gewöhnlich Verlass. Er soll ja über die besten Quellen verfügen. Und für wann soll der Besuch geplant sein? Ist darüber auch etwas bekannt?“
„Löwitz meinte… es könnte grundsätzlich jederzeit sein…“
„Na gut, dann lassen wir uns einfach mal überraschen, was anderes bleibt uns ja auch gar nicht übrig“, meinte Herr Ude schmunzelnd.

Anschließend entnahm der Referent seiner grünen Mappe einige Dokumente.
„Ich muss ihnen nun noch etwas zeigen, nämlich die neuesten katastrophalen Einschätzungen bezüglich der Gewerbesteuer.“ Bei diesen Worten hantierte Herr Himmelstoss aber so ungeschickt mit den Papieren, sodass eines davon zu Boden fiel. Um das Dokument wieder aufheben zu können, wollte er nun seinen Laptop auf dem Schreibtisch abstellen. Doch dabei war ihm wieder der stachlige Kaktus im Weg. Daraufhin stand Herr Ude mit den Worten auf: „Moment mal ich stell jetzt erst mal den Kaktus dahin, wo er hingehört, nämlich ans Fenster in die Sonne.“

Doch beim Versuch den Kaktus mit beiden Händen hochzuheben stieß er mit dem rechten Fuß gegen die Teppichkante, fing sich aber wieder.
Dadurch aber berührte er mit der Innenseite seines rechten Unterarms den stacheligen Kaktus und verletzte sich leicht. Ein kleiner Kratzer.
Herr Ude blickte kurz auf die Stelle und sagte dann zu seinem Referenten:
“Na, so was aber auch, jetzt hab ich mich doch glatt noch gestochen.“
Dieser antwortete schlagfertig wie er nun einmal war:
„Tja, wer die Gefahr sucht, der wird darin umkommen.“ Beide lachten.

Schließlich stellte Herr Ude das stachelige Prachtstück auf der breiten Fensterbank ab. Danach betrachtete er noch einmal, dieses Mal im grellen Sonnenlicht, die kleine Wunde an der Innenseite seines rechten Handgelenks. Sie hatte sich mittlerweile leicht gerötet. Da es aber nur ein Kratzer war schenkte er dem ganzen Vorfall keine weitere Bedeutung.

Herr Himmelstoss hatte inzwischen seine grüne Mappe geöffnet und einen Wust von Dokumenten auf dem Tisch des Oberbürgermeisters ausgebreitet. Der Referent unterrichtete nun das Stadtoberhaupt über die wichtigsten anstehenden Termine. Schließlich kam auch noch der Stadtkämmerer Dr. Löffler hinzu. Ein wuchtiger Mann, in feinstes Tuch gekleidet, und immer leicht schwitzend.
„Grüß Sie Gott meine Herren. Tut mir schrecklich leid, aber ich wurde aufgehalten.“
„Nur keine Hektik Herr Dr. Löffler. Rom wurde ja schließlich auch nicht an einem Tag erbaut“, antwortete das Münchener Stadtoberhaupt freundlich lächelnd. Gemeinsam besprach man nun die aktuelle Lage, sowie die neuesten Informationen.

Dr. Löffler bestätigte die negativen Zahlen von Meyerbeer bezüglich der Gewerbesteuereinnahmen. Der Grund für diesen exorbitanten Rückgang sei natürlich die allgegenwärtige Finanzkrise. Herr Ude hörte aufmerksam zu. Doch plötzlich fühlte er, wie eine leichte Übelkeit in ihm hochkam.
Er hatte das Gefühl, als würde irgendetwas in seiner Brust versuchen sich ausdehnen zu wollen. Ein leichter Schwindel kam hinzu. Der Herr Referent bemerkte natürlich sofort die schlagartige Befindlichkeitsstörung des Oberbürgermeisters. Offensichtlich fühlte sich Herr Ude gar nicht wohl. Auch Dr. Löffler blickte mit nach oben gezogenen Augenbrauen besorgt auf Herrn Ude. Das Blut war mittlerweile völlig aus dessen Gesicht gewichen. Das Stadtoberhaupt rang sichtlich nach Luft. Gleichzeitig begann er an seiner Krawatte zu zerren, und nestelte nervös an seinem Hemdkragen.

„Einen Arzt… wir müssen sofort einen Arzt holen!“ rief Dr. Löffler aufgeregt. Daraufhin lief der Referent sofort hinaus ins Vorzimmer um Frau Beck, der Vorzimmerdame Bescheid zu geben. Anschließend kam er wieder mit einem Glas Wasser zurück. Zwischenzeitlich hatte der Stadtkämmerer eines der hohen Fenster weit geöffnet.
Das Stadtoberhaupt saß nun auf einem Stuhl direkt vor dem geöffneten Fenster. Der Referent reichte ihm ein Glas Wasser. Auch Frau Beck war mittlerweile herbei geeilt um ihrem Chef fürsorglich mit einem nassen Lappen die schweißbedeckte Stirn zu tupfen.

„Die Hitze…das wird wohl die Hitze sein!“ rief sie aus. Wir haben jetzt schon 35 Grad… dabei ist es erst zehn Uhr morgens.“
Herr Himmelstoss und Dr. Löffler pflichteten ihr bei.
„Nein die Hitze bin ich gewohnt… das glaube ich nicht. Der Kreislauf… das wird wohl mein Kreislauf sein“, antwortete Herr Ude. „Ja, natürlich wegen der Hitze“, antwortete Frau Beck. Im nächsten Moment traf der Arzt ein. Es war Doktor Mandarin der Leibarzt des Münchner Oberbürgermeisters. Seine Praxis befand sich praktischerweise in der Weinstraße, also in unmittelbarer Nähe des Rathauses.

„Herr Ude ich grüße sie. Na, was machen sie mir den für Sachen“, sagte Dr. Mandarin sichtlich besorgt, während er sofort die gepolsterte Manschette um den linken Oberarm des Bürgermeisters legte, um dessen Blutdruck zu messen. Beide kannten sich bereits seit über zehn Jahren.
Auch Dr. Mandarin besaß nämlich ein Haus auf Mykonos. Kennen gelernt hatten sich die beiden seinerzeit in der Toskana. Anschließend besuchte dann Dr. Mandarin mehrmals die Familie Ude auf Mykonos. Es dauerte nicht lange bis er sich schließlich ebenfalls dazu entschloss ein Haus auf Mykonos zu bauen. Und er hatte es nie bereut.
Er war ein großer stattlicher Mann mit Stirnglatze und ebenmäßigen Gesichtszügen. Er war füllig ohne jedoch dick zu sein. Seine Vorfahren kamen aus Südamerika. Seine Mutter Dolores Manchito war früher als Schiffsärztin tätig gewesen. Zu ihrer Zeit hatte sie überwiegend auf Kreuzfahrtschiffen ihren Dienst verrichtet. Dabei hatte sie auch ihren Mann kennengelernt. Er war damals Kapitän zur See gewesen und steuerte so manch großen Pott über die Weltmeere. Mittlerweile waren die Manchitos aber hoch betagt und genossen ihren Ruhestand. Sie verbrachten ihren wohlverdienten Lebensabend in einem Brüsseler Seniorenstift.

Doch im nächsten Moment schien es – zur allgemeinen Überraschung aller Anwesenden – als habe sich Herr Ude urplötzlich wieder völlig erholt. Denn erhob er sich behände von seinem Stuhl und sagte mit fester Stimme:
„Ja, meine Herren… ich hatte wohl eben einen Kreislaufkollaps.“
„Ja, sieht ganz danach aus“, antwortete Udes Leibarzt, „aber um das genauer abklären zu können werde ich sie jetzt kurz in meine Praxis entführen. Wir machen da einen kleinen Checkup und keine Widerrede.“
Herr Ude wusste, dass es so gut wie keinen Sinn machte dem Doktor zu widersprechen. Vor allem dann nicht, wenn seine Stimme diesen eigenartigen metallischen Klang annahm. Auch an seinen Augen konnte er deutlich erkennen, dass die Lage, entgegen der nach außen zur Schau getragenen Zuversicht, im Grunde viel ernster sein musste.
Ude wandte sich daraufhin an Dr. Löffler und Herrn Himmelstoss:
„Ja, meine Herren… tut mir leid, aber dann muss ich sie eben bitten mich zu entschuldigen. Sie sehen ja der Doktor meint es ernst. Machen wir also morgen weiter.“

Dr. Löffler und Herr Himmelstoss verabschiedeten sich daraufhin vom Münchner Stadtoberhaupt – nicht aber ohne vorher noch gute Besserung zu wünschen.
„Was hast du eigentlich da am Arm gemacht“, fragte nun Dr. Mandarin eher beiläufig. Wenn sie unter sich waren duzten sie sich. Die Würde des Amtes sollte ja stets gewahrt bleiben. „Wo…?“ antwortete Ude. „Ach… du meinst hier am Arm“, bei diesen Worten blickte er auf die winzige Wunde, „da hab ich mich an dem neuen Kaktus gestochen.“
„Zeig mal her, da hat sich ja ein kleiner blauer Kreis gebildet, genau um den Einstich.“ Herr Ude blickte auf die besagte Stelle.
„Ja, tatsächlich. Was hat das zu bedeuten?“
„Vielleicht eine allergische Reaktion. Zumindest sieht es ganz danach aus. Ich muss sofort dein Blut untersuchen.“
„Wann hast du dich eigentlich gestochen und an welchem Kaktus?“, wollte Udes Leibarzt nun wissen. Es standen nämlich eine Menge Kakteen auf der breiten Fensterbank.
„Wann…? Ja… etwa vor einer Stunde. Und gestochen habe ich mich an diesem Schwiegermuttersessel dort drüben.“

Dr. Mandarin sah sich nun neugierig den neuen Kaktus an. Er war etwa dreißig Zentimeter hoch und hatte lange senkrechte stachelige Rippen. Auf den länglichen Kanten zeigten sich rosafarbene Knospen. Die Innenseiten der Rippen schimmerten seltsamerweise leicht bläulich.
Dr. Mandarin schien es, als würde dieser Kaktus innerlich leicht pulsieren. Er kannte ihn auch von vielen bildlichen Darstellungen sowie von zahlreichen Skulpturen der alten Azteken. Diese Pflanze hatte im Reich der Azteken eine große rituelle Bedeutung gehabt – auf ihr wurden auch Menschenopfer dargebracht.
„Ein wirklich schönes Exemplar“, stellte Dr. Mandarin schließlich bewundernd fest.
„Aber jetzt gehen wir doch besser in meine Praxis. Komm lass uns gehen.“

Auf dem Weg nach unten kam ihnen auf der Treppe des Rathauses ein älterer Münchner Bürger entgegen.
„Herr Ude. Entschuldigen sie bitte… wenn ich sie hier einfach so überfalle. Aber gestern wollte ich auf den Rathausturm hinauf doch der Zutritt wurde mir verwehrt. Und das obwohl ich doch ein echter Münchner bin.“
Herr Ude der eigentlich vorhatte den Mann höflich aber bestimmt auf die Bürgersprechstunden zu verweisen stutzte plötzlich und schmunzelte.
„Na, das ist aber ein starkes Stück. Ein echter Münchner. Und dann lässt man sie nicht mal auf den Rathausturm oder wollten sie etwa den Eintritt nicht bezahlen?“
„Das ist es ja gerade. Ich habe einen München Pass. Doch die Dame, die da oben an der Kasse sitzt kennt diesen Pass nicht einmal. Sie hat dieses amtliche Dokument einfach nicht anerkannt.“
„Das gibt’s doch nicht“, antwortete Herr Ude sichtlich verblüfft.
„Aber ich verspreche ihnen ich werde mich persönlich darum kümmern. Jetzt entschuldigen sie mich aber bitte ich muss nun wirklich weiter.“
„Ja, natürlich. Vielen Dank auch… Herr Ude.“

Dr. Mandarin und Münchens Oberbürgermeister verließen daraufhin gemeinsam das Münchner Rathaus. Draußen brannte die Maisonne auf das glühende Pflaster. Schatten und gleißendes Licht wechselten gegeneinander. Wie immer warteten viele Touristen geduldig auf den Beginn des alltäglichen Glockenspiels. Ude zeigte plötzlich beiläufig in Richtung Kaufhof dessen Außenfassade nun schon seit sechs Wochen renoviert wurde. Der Bau war vollkommen eingerüstet und komplett mit weißen Stoffbahnen umhüllt.
„Die werden auch nicht mehr fertig“, sagte er kopfschüttelnd und Dr. Mandarin meinte trocken: „Sieht beinahe aus wie ein Werk des Verhüllungskünstlers Christo.“

Sie schritten weiter in Richtung Donisl. Urplötzlich jedoch bemerkte Herr Ude aber, dass er sich anscheinend immer mehr vom Boden entfernte. Er blieb abrupt stehen. Gleichzeitig schienen seine Füße immer kleiner zu werden. Zugleich überkam ihn das unbestimmte Gefühl, als würde er langsam aber sicher immer größer werden. Sein Anzug spannte sich schon auf äußerst unangenehme Art und Weise. Auch sein Schuhwerk wurde immer enger und dann ging es plötzlich Schlag auf Schlag. Als erstes zerriss sein Jackett. Am Rücken, vom Kragen abwärts klaffte plötzlich ein langer Riss. Schließlich platzte auch noch seine Hose. Entsetzt schrie Ude auf.

Dr. Mandarin rieb sich mit einem Ausruf des ungläubigen Erstaunens die Augen, und starrte benommen nach oben auf den immer größer werdenden Ude. War das wirklich möglich oder unterlag er am Ende etwa einer Sinnestäuschung. Doch im nächsten Moment flogen die Knöpfe vom Anzug des Münchner Oberbürgermeisters wie Querschläger durch die Luft. Dies war eine eindrucksvolle Bestätigung dafür, dass es sich mit Sicherheit um keine Sinnestäuschung handelte.

Schließlich zerbarsten auch die Nähte seiner schwarzen Schuhe. Seine gesamte Kleidung zerriss unter der brachialen Ausdehnung seines Körpers. Alles was er am Leib trug platzte auf und die Fetzen flogen wie wild durch die Luft. Am Ende auch noch die gesamte Unterwäsche. Herr Ude wurde immer größer und noch größer. Anfangs geschah es wie in Zeitlupe. Doch die letzten Meter schoss er dann förmlich in die Höhe. Allgemeine Panik griff um sich. Die Menschen fingen an zu schreien und wichen entsetzt zurück. Zeternd, schwatzend und tuschelnd stand die Menschenmenge, welche gerade eben noch geduldig auf den Beginn des alltäglichen Glockenspiels gewartete hatte nun wie eine aufgeregte Vogelschar beisammen.

Ude selbst wurde plötzlich von einer Angst ergriffen, welche so stark war, wie eine Naturgewalt. Sie legte sich über ihn und hielt ihn fest umklammert. Was war passiert? Was geschieht hier schoss es ihm eiskalt durch den Kopf. Ein gewaltiges Chaos brach aus. Er hörte die ersten hysterischen Schreie der Menge unter ihm. Er blickte neugierig um sich. Die Menschen starrten zu ihm hoch und viele deuteten auf ihn. So manch einer kniete aber auch nieder und bekreuzigte sich eiligst.
War das am Ende etwa alles nur ein Traum? Er war doch gerade eben noch mit seinem Leibarzt auf dem Weg in dessen Praxis gewesen. Völlig verdutzt blickte er wieder nach unten.
Und tatsächlich. Da unten konnte er deutlich erkennen wie jemand mit beiden Armen aufgeregt zu ihm hoch winkte. Das konnte nur Dr. Mandarin sein.
„Doktor… was geschieht mit mir… was ist passiert… ist die Welt nun komplett verrückt geworden…?“ schrie Ude.
Seine Stimme klang jedoch sehr laut, wenn nicht gar bedrohlich. Kein Wunder, denn er war inzwischen so groß wie der Münchner Rathausturm. Fünfundachtzig Meter hoch. Ein Riese in Menschengestalt. Ein wahrer Titan. Wie er so da stand, sah er doch beinah tatsächlich so aus, wie einer von den sagenhaften zwölf Titanen, entsprungen aus dem ältesten griechischen Göttergeschlecht von Gaja und Uranos.

Erneut brach allgemeine Panik aus, da Ude einmal kurz mit dem nackten Fuß aufstampfte. Der Boden begann zu zittern. Staubwolken wirbelten auf. Die aufgeregten Menschenmassen rannten daraufhin in alle Himmelsrichtungen davon. Sie stoben auseinander, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.

„Das ist doch unmöglich…!“ rief Dr. Mandarin völlig staubbedeckt und starrte wieder nach oben, bis er es doch lieber vorzog, selbst in Deckung zu gehen. Er stellte sich, wie viele andere auch unter die Arkaden der Gaststätte – Zum Donisl.
Von den gewaltigen Auswirkungen seiner unbeabsichtigten Bewegung selbst auf das Höchste erschrocken überkam Ude nun die Einsicht sich nur noch mit äußerster Vorsicht zu bewegen. Er musste ja nun über ein immenses Gewicht verfügen. Jede kleinste Bewegung konnte somit ein gigantisches Werk der Zerstörung nach sich ziehen. Aber gleichzeitig überkam ihn trotz seiner Größe und Stärke ein Gefühl der totalen Hilflosigkeit. Das Münchner Stadtoberhaupt blickte nun ängstlich mit einem Gesichtsausdruck des ungläubigen Nichtbegreifens um sich.

Und über ihm thronte erbarmungslos die Maisonne. Sie stand wie ein behäbiges Glutrad am weißblauen Himmel. Es war nun Mittagszeit und es war knüppelheiß. Langsam wurde ihm klar, dass hier anscheinend etwas passiert war, was normalerweise einfach nicht passieren konnte.
Von allen Seiten war plötzlich lautes Sirenengeheul zu hören. Die ganze Stadt war inzwischen auf den Beinen. Tausende rannten zum Marienplatz. Einsatz Hundertschaften der Polizei versuchten verzweifelt, sich einen Weg durch die riesigen Menschenmassen zu bahnen. Einige kamen tatsächlich durch. Sie standen schließlich auf dem Marienplatz und starrten fassungslos zu Ude hinauf. Aufgeregt fuchtelten sie mit ihren Funkgeräten.
„Ich fass es nicht… ist das echt oder wird hier versteckte Kamera gespielt?“ rief einer von ihnen.
„Nein, ich glaube das ist echt. Das ist unser Bürgermeister!“, stieß ein anderer hervor. „Informieren sie sofort den Katastrophenschutz und vor allem den Polizeipräsidenten… aber schnell!“ schrie jemand aufgeregt. Alle waren wie vor den Kopf gestoßen. War das etwa am Ende ein Terrorangriff? Ein unbeschreibliches Chaos breitete sich aus. Schließlich wurde der Marienplatz geräumt und abgesperrt. Ordnung musste schließlich sein.

Die wogende Menge stand dicht gedrängt. Die Panik, ja die Hysterie hatte sich aber mittlerweile schon wieder etwas gelegt. Schließlich war es ja Münchens Oberbürgermeister der hier stand und nicht etwa irgendein Monster oder Zyklop. Verwunderung, Staunen und auch etwas Mitleid machten sich allmählich breit. Die Menschen schienen plötzlich zu begreifen, dass sie hier Zeugen eines einmaligen Ereignisses wurden, welches normalerweise einfach unmöglich war. Alle starrten angestrengt zu Ude hinauf. Und es wurden immer noch mehr.
Die ersten Kamerateams eilten herbei. Handys wurden gezückt und übertrugen das Unfassbare sofort ins Internet. Gleichzeitig wurden die Menschen auch über Rundfunk und alle Fernsehstationen eindringlich gebeten die Münchner Innenstadt zu auf jeden Fall zu meiden. Stattdessen wurde empfohlen die Landeshauptstadt möglichst weiträumig zu umfahren. Im Innenministerium befürchtete man bereits die Menschenansammlung aufgrund der stetigen Zunahme bald nicht mehr kontrollieren zu können.
Über Twitter ging dieses unglaubliche Ereignis natürlich sofort um den gesamten Erdball. Bald tauchten auch die ersten Videos auf Youtube und anderen Internet Plattformen auf. Die ganze Welt wurde in totales Erstaunen versetzt. Es gab also nun wirklich einen Riesen. In Europa. Und zwar in Deutschland im Bundesland Bayern. In München.

Herr Ude überragte nun sogar noch leicht den Münchner Rathausturm. Und beinah direkt vor seinem Gesicht befand sich nun das Münchner Kindl, welches auf der Spitze des Rathausturms befestigt war. Mit weit ausgebreiteten Armen strahlte es ihn an. Nun hatte er also, wenn auch unfreiwillig, den perfekten Überblick über das im neugotischen Stil erbaute Münchner Rathaus mitsamt seinen Innenhöfen, welches man seinerzeit bekanntlich nach den Plänen des Grazer Architekten Hauberrisser, zwischen 1867 – 1909 in mehreren Bauphasen errichtet hatte.

Aber wie konnte es nur geschehen, dass er selbst plötzlich so hoch wie der Rathausturm geworden war. Anscheinend auch noch ohne irgendwelche erkennbaren körperlichen Schäden davon getragen zu haben. Im Gegenteil!
Er fühlte sich wie neu geboren. Ude kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seine Kleidung war zwar völlig zerrissen, aber ihm selbst ging es abgesehen von seinem psychischen Ausnahmezustand – bedingt durch die unvermittelt eingetretene Veränderung der gewohnten Realität – sehr gut. Er fühlte sich um Jahrzehnte verjüngt.
Seine Augen Gelenke und Muskeln waren wieder in bester Ordnung. Er betastete vorsichtig seinen Körper nur um instinktiv festzustellen, das noch alles dran war. Doch dabei wurde ihm auch mit einem Mal schlagartig klar, dass er ja gänzlich unbekleidet da stand, also völlig nackt.
Daraufhin versuchte er einem spontanen Impuls seines Schamgefühls folgend, mit beiden Händen seine Blöße zu bedecken. Doch diese Peinlichkeit war im Grunde ja dadurch auch nicht mehr zu ändern. Darauf kam es nun auch nicht mehr an. Zu skurril, zu schrecklich und unfassbar zugleich war diese mehr als groteske Situation. Ungläubig mit weit geöffnetem Mund blickte er wieder hinab zu den gewaltigen Menschenmassen, welche ihrerseits fassungslos zu ihm hoch starrten.

Münchens Oberbürgermeister stand nun mit dem Rücken zum Rathaus. Zu seiner linken Seite befand sich der Alte Peter. Rechts von ihm die Münchner Frauenkirche. Er blickte weit ins Land hinein bis sein Blick schließlich am wunderbaren Alpenpanorama hängen blieb. Und über ihm spannte sich in aller Unschuld der blaue wolkenlose Himmel.
Ich brauche irgendetwas um meine Blöße zu bedecken schoss es ihm durch den Kopf. Da kam ihm die rettende Idee. Der Kaufhof war doch eingerüstet. In seiner Not beugte er sich nach vorne und griff nach den weißen groben Stoffbahnen die das klobige Bauwerk verhüllten. Vorsichtig ziehend gelang es ihm schließlich den größten Teil des Stoffes behutsam von dem Gebäude zu entfernen ohne dabei allzu viel zu beschädigen. Dennoch krachten einige schwere Eisenstangen und ein Balken mit lautem Getöse zu Boden. Staub wirbelte auf. Die Menschenmenge schrie abermals auf und wich erneut ängstlich zurück.

Mit den langen Stoffbahnen gelang es Ude schließlich doch noch seine Blöße wenigstens notdürftig zu bedecken. Er fühlte sich nun etwas wohler, obgleich die Situation dadurch in keiner Weise besser geworden war. Was würde als Nächstes geschehen? Er musste eine Strategie entwickeln die das Unberechenbare mit einbezog. Eines war ihm jedoch sofort sonnenklar. Er konnte hier auf dem Marienplatz nicht einfach so stehen bleiben. Wo aber sollte er hin?

Er blickte wieder neugierig um sich und sah wie sich eine ungeheure Menschenmasse aus allen Himmelsrichtungen auf den Münchner Stadtkern zu bewegte. Jeder wollte den Riesen natürlich mit eigenen Augen sehen. Innerhalb des mittleren Rings standen Tausende und Abertausende Menschen dicht gedrängt. Die Folge war der totale Zusammenbruch des Münchner Verkehrsnetzes – zumindest auf der Erdoberfläche.
Da erschienen plötzlich der Bayerische Ministerpräsident der Innenminister sowie der Kreisverwaltungsreferent und der Münchner Polizeichef auf der steinernen Brüstung hoch oben auf dem Münchner Rathausturm.
„Herr Ude… was ist denn passiert!“, schrie der bayerische Ministerpräsident mit beiden Armen aufgeregt winkend von der Brüstung des Rathausturms.
„Gute Frage“, erwiderte Herr Ude trocken und zuckte mit den Achseln.
Der Polizeichef schlug daraufhin vor Ude sollte doch erstmal zum Englischen Garten hinüber gehen. Für ihn wären es ja nur ein paar Schritte. Dort hätte er auch mehr Platz und der Untergrund wäre auch nicht so stark unterhöhlt, als wie hier auf dem Marienplatz. Allerdings sollte Ude sehr vorsichtig auftreten, um nur ja nicht einzubrechen.

Der Innenminister stimmte dem Vorschlag zu. Insgeheim bedauerte er allerdings, dass er selbst nicht auf diese Idee gekommen war. Denn in der Tat, was immer hier auch geschehen war, der Marienplatz war eindeutig zu klein für einen Riesen. Auch wenn dieser Christian Ude hieß.
„Wir können ihn doch hier nicht einfach so stehen lassen“, legte der Polizeipräsident nach und fügte eindringlich hinzu:
„Wir müssen etwas unternehmen und zwar sofort!“
Der Chef des Kreisverwaltungsreferats sagte plötzlich nachdenklich: „Er habe erst neulich in einem streng wissenschaftlichen Magazin über die Umkehrung von so genannten molekularen Nano-Strukturen gelesen. In diesem Artikel hieß es sogar, die Möglichkeit, dass ein organisches Lebewesen jederzeit total winzig oder sogar riesengroß werden könne bestehe tatsächlich. Nämlich durch die Bi-Polare Umpolung besagter Nano – Strukturen. Dieser Vorgang könne – wenn einmal aktiviert – in Sekunden geschehen. Dafür gäbe es sogar empirische Belege.

Der Polizeichef erwiderte daraufhin spontan: „Mein lieber Herr Kreisverwaltungsreferent. Was immer auch die Ursache dafür sein mag im Moment ist das alles unwichtig. Zu allererst müssen wir Ude helfen und im Englischen Garten geht das allemal besser als hier auf dem Marienplatz.“
Der Ministerpräsident beendete daraufhin mit einem Machtwort die sich anbahnende Diskussion: „Der Polizeichef hat Recht. Ich stimme seinem Vorschlag zu.“
Anschließend rief er aufgeregt zu Ude empor: „Lieber Herr Ude, was auch immer passiert ist… gehen sie doch zum Englischen Garten hinüber. Wir lassen sie nicht im Stich… keine Sorge!“

Ude überlegte kurz und kam dann zu dem Schluss dem gut gemeinten Ratschlag des bayerischen Ministerpräsidenten zu folgen. Er stimmte zu.
Daraufhin wurde sofort die komplette Räumung der Münchner U-Bahn in die Wege geleitet. Gleichzeitig erging über Lautsprecher die Bitte an die Bürger die Theatiner Straße frei zu machen. Die Menschen kamen der Aufforderung mittlerweile gerne nach. Es musste doch etwas geschehen, das war allen klar.
Außerdem überwog das allgemeine Mitgefühl für den armen Ude. Die anfängliche Panik hatte sich wieder gelegt. Die Mehrheit der Münchner Stadtbevölkerung war ihm ja schließlich seit jeher wohl gesonnen, und das schon seit vielen Jahren.

Seit jenem zwölften September neunzehnhundertdreiundneunzig, als er das erste Mal das Amt des Münchner Oberbürgermeister antrat hatte er stets mit dem richtigen Weitblick dem Mut zur Entscheidung, und nicht zuletzt durch sein großes Stehvermögen die Geschicke der Stadt München in hervorragender Weise gelenkt.
In seiner Eigenschaft als Stadtoberhaupt und Titan wider Willen fasste sich Ude nun ein Herz und sprach zu seinen Bürgern:
„Liebe Münchner. Ich möchte euch bitten mir den Weg zum Englischen Garten frei zu machen. Also die Weinstraße, die Theatiner Straße und den Odeonsplatz! Ich danke euch!“
Anschließend erging erneut über Lautsprecher die Aufforderung an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt München insgesamt in vier verschiedenen Sprachen – nämlich in Englisch, Türkisch, Japanisch und Italienisch – den Weg zum Englischen Garten zu räumen. Einsatzkräfte vom Technischen Hilfswerk räumten daraufhin das gesamte Mobiliar der Fußgängerzone beiseite. Im nächsten Moment ging ein Raunen durch die Menschenmenge. Ude hatte nämlich damit begonnen vorsichtig einen nackten Fuß vor den anderen zu setzen. Er machte kleine vorsichtige Schritte. Ja, er ging auf den Zehenballen – beinahe wie ein Indianer auf dem Kriegspfad – immer darauf bedacht nur ja keine Erschütterung zu verursachen.

Nach einigen Schritten in dieser durchaus anstrengenden Haltung war Ude jedoch bereits an der Maffeistraße angelangt. Als Nächstes betrat er nun vorsichtig die Theatinerstraße. Diese war etwas schmaler und somit musste er noch konzentrierter gehen. Die Dachgiebel der Häuser reichten ihm gerade einmal bis zur nackten Hüfte. Vorne, zwischen Theatinerkirche und Feldherrnhalle schien es dann noch einmal sehr eng zu werden. Doch schließlich erreichte Ude unter dem lauten Jubel der dort wartenden Menschenmenge den Odeonsplatz. Das Ganze war mittlerweile ein derart grandioses und in der Tat noch nie dagewesenes Schauspiel, welches gleichzeitig auch noch live in allen Medien übertragen wurde. Schließlich nahm sich Ude ein Herz und stieg am Cafe Tambosi mit äußerster Vorsicht über die Arkaden. Er stand nun im Münchner Hofgarten. Rechts von ihm befand sich die prächtige Residenz der Wittelsbacher. Ein paar Meter vor seinen Füßen lag der Englische Garten. Ude ging vorsichtig weiter und stellte sich erstmal auf die Harmloswiese. Zu seiner linken Seite befanden sich nun der Dichtergarten sowie das Prinz Carl Palais. Vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika waren vorsichtshalber Soldaten in Panzerspähwagen aufgefahren. Für alle Fälle.

Ude schritt weiter voran. Schließlich stieg er über einige Bäume die den Englischen Garten vom Süden her umsäumten, und erreichte endlich die weitläufige Grünanlage. Während des ganzen Weges wurde er natürlich von Tausenden Menschen begleitet – allerdings in respektvollem Abstand.
Auf der Wiese hinter dem Haus der Kunst angekommen wurde Ude von einer Meute herrenloser Hunde empfangen, die schwankend zwischen Angriff und Flucht, lauthals zu bellen begann. Durch das anhaltende Chaos waren sie wahrscheinlich ihren Besitzern entlaufen. Einen allzu mutigen Köter hätte Ude beinahe unabsichtlich zertreten. Doch dem Vierbeiner gelang es gerade noch in allerletzter Sekunde sich mit einem mutigen Satz in Sicherheit zu bringen.

Außerdem wurde Ude bereits von einer mindestens zwanzig Meter breiten Pressefront, bestehend aus Kamerateams, Fotografen und Journalisten aus aller Welt erwartet.
Und es wurden immer noch mehr. Seltsamerweise war eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Linien-Infantrie-Regiment aus dem achtzehnten Jahrhundert nicht zu leugnen, so akkurat standen die Presseleute beisammen. Warum wusste keiner. Vielleicht hatten sie aber nur Angst und fühlten sich deswegen in dieser dicht zusammengedrängten Formation einfach sicherer.

Ude schritt nun über den Eisbach. Unter einem schattenspendenden Baum konnte er ja nun aufgrund seiner Größe nicht mehr Platz nehmen, das hätte er nur zu gerne getan. Denn die für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiße Mittagssonne brannte gnadenlos herunter. Daher begann er schrecklich zu schwitzen. Zugleich bekam er großen Durst. Sein Mund war inzwischen völlig ausgetrocknet. Seine Zunge lag wie ein toter schuppiger Fisch in seinem ausgetrockneten Mund. Doch woher Wasser nehmen?
Er schaute hinab auf den in aller Ruhe vor sich hinplätschernden Eisbach, der ihm allerdings wie ein Rinnsal erschien, und steckte die rechte große Zehe hinein. Mehr ging nicht, denn dazu waren seine Füße einfach zu groß.
Schließlich beugte er sich hinab und erfrischte sich. Die Fotografen schossen Bilder was das Zeug hielt. Tausende Kameras filmten den sich nass machenden Riesen. Die Menge schrie mitunter belustigt auf vermied es aber zu nahe an Ude heran zu kommen.
Mit einem Mal kam er sich vor wie Gulliver der Riese, der nach erlittenem Schiffbruch im Lande der Liliputaner gelandet war. Gott Sei Dank aber versuchten seine Münchner ihn nicht zu fesseln, wie es seinerzeit dem armen Gulliver passiert war. Auch schossen sie nicht mit Pfeilen nach ihm. Man bestaunte ihn nur ehrfürchtig. Und zwar vom Jüngsten bis zum Ältesten.

Plötzlich war über dieser unwirklichen Szenerie der infernalische Lärm eines großen Flugzeugs zu hören. Alles blickte in die Höhe. Eine weißblaue Maschine drehte in etwa achthundert Meter Höhe mehrere großzügige Schleifen. Ude stand auf und starrte ebenfalls neugierig nach oben. Er erschrak zutiefst, denn dieses Flugzeug war eindeutig die Air Force One des amerikanischen Präsidenten. Da gab es keinen Zweifel. Er konnte deutlich den Schriftzug – UNITED STATES OF AMERICA – erkennen. Das konnte also nur Obama sein. Am liebsten wäre er jetzt im Boden versunken doch das war ja nun leider nicht mehr möglich.

Musste ihn Obama auch gerade jetzt und in diesem Zustand sehen? Als nackten Riesen. Doch Ude entschied sich dafür die Flucht nach vorne zu ergreifen und winkte nun freudig zu dem Flugzeug hinauf.
Im Inneren der Maschine drückte der amerikanische Präsident seine Nase am Fenster platt. Im atemlosen Tonfall, sichtlich geschockt stieß Obama hervor:
„Mein Gott… wie… wie ist so etwas nur möglich. Ist das Zauberei? Das ist also der Oberbürgermeister von München… er ist wirklich ein großer Mann!“
Auch der Secret Service war sich unschlüssig, wie man mit dieser grotesken Situation umgehen sollte. Man hatte ja schon viel erlebt, aber so etwas war noch keinem der hart gesottenen Agenten jemals vor die Augen oder vor das Zielfernrohr gekommen. Dennoch, ein Anschlag auf den amerikanischen Präsidenten schien es jedenfalls nicht zu sein.

Also holten sie ihre Digicams heraus und drehten noch einige Runden. Denn so wie Ude da stand den rechten Arm zur Begrüßung erhoben wirkte er irgendwie, wenn auch unfreiwillig, wie das bayerische Gegenstück zur amerikanischen Freiheitsstatue. Ein wahrer Titan allerdings nur mit einem knappen Lendenschurz bekleidet.
Auch die Menschenmassen hatten natürlich das Flugzeug sofort als Air Force One erkannt und viele Obama Anhänger winkten enthusiastisch nach oben. Schließlich erteilte der Chef des Secret Service nach Rücksprache mit dem Präsidenten aber doch den Befehl nun den Münchner Flughafen anzufliegen. Die Maschine drehte ab.

Als nächstes landete mit lautem Getöse ein Helikopter hinter dem Haus der Kunst, mitten im FKK Gebiet. Die Nackten wichen ängstlich zurück. Dem Helikopter entstieg der bayerische Ministerpräsident mit seiner gesamten Entourage. Auch Frau Edith von Welser-Ude, die Gattin des Münchner Stadtoberhauptes, war dabei. Beim Anblick ihres zum Riesen mutierten Mannes verschlug es ihr erst einmal die Sprache. Nahe einer Ohnmacht starrte sie nach oben und rang sichtlich nach Luft. Dr. Mandarin der sich auch im Gefolge des Ministerpräsidenten befand hielt ihr sofort ein Riechfläschen unter die Nase, um ihre Sinne wieder neu zu beleben.
„Um Gotteswillen, was hat das zu bedeuten?“ stieß Frau Ude hervor.
„Beruhigen sie sich… was auch immer dahinter steckt wir werden es herausfinden.“
„Das will ich auch hoffen… das kann doch alles nicht wahr sein. Mein armer Mann. Was soll er denn jetzt essen oder trinken. Er wird sicher großen Durst haben?“

„Ja stimmt. Sie haben Recht. Er wird bestimmt großen Durst verspüren noch dazu bei dieser Hitze“, erwiderte Doktor Mandarin ebenso besorgt. Wir müssen unbedingt etwas unternehmen.“
Die Sonne stand nun im vollen Zenit.
Ude hatte natürlich auch sofort seine Frau sowie seinen Leibarzt im Gefolge des Ministerpräsidenten erblickt. Um ihnen irgendwie näher sein zu können, beschloss er sich wieder hinzusetzen. Allerdings nicht ohne vorher genauestens zu prüfen ob sich nicht irgendjemand unter ihm befand. Sei es nun ein Hund oder ein Mensch. Man konnte ja nie wissen. Vorsicht war allemal angebracht. Doch selbst in sitzender Position befand sich sein Kopf immer noch in einer Höhe von etwa vierzig Metern.

Ude richtete nun das Wort an seine Frau:
„Edith… frag mich bitte nicht was passiert ist … ich weiß es auch nicht, aber ich fühle mich merkwürdigerweise um Jahrzehnte verjüngt. Alle meine kleinen Zipperlein sind verschwunden…. sogar mein rechtes Knie ist wieder heil. Auch meine Augen… du kannst es dir nicht vorstellen… ich sehe wie ein Adler… es ist erschreckend schön, aber gruselig zugleich.“
„Ja, aber wie soll das nun weitergehen?“ stieß seine Gattin aufgeregt hervor, „du kannst doch nicht plötzlich so groß sein… das geht doch nicht. Wie willst du dich kleiden? Was willst du essen? Wo wirst du schlafen… wo… wo…?“
Schließlich fiel Frau Edith von Welser-Ude doch noch in eine gnädige Ohnmacht, direkt in die Arme von Udes Leibarzt. Herbei geeilte Sanitäter kümmerten sich sofort um sie.

Angesichts der ungeklärten Lage beschloss nun der Münchner Stadtrat sowie die Bayerische Staatsregierung eine internationale Task Force einzurichten. Mit dieser Aufgabe betraute der Herr Ministerpräsident nach Rücksprache mit dem zweiten Bürgermeister keinen geringeren als Udes Leibarzt. Es lag nun also an ihm ein Team von Spezialisten zusammenzustellen. Dr. Mandarin willigte auch sofort ein. Als erstes ordnete er an Udes persönlichen Referenten sowie Dr. Löffler den Stadtkämmerer zu suchen. Als Stützpunkt der Task Force wählte man das Max Plank Institut für Plasmaphysik in Garching bei München.

Der Titan 2

Jedes der Fahrzeuge führte zweitausend und fünfhundert Liter Wasser mit sich. Die Feuerwehrmänner rollten nun unter dem Beifall der Menschenmassen die Schläuche aus und warfen die Pumpen an. Der Kommandant des Löschzugs baute sich vor dem riesenhaften Ude auf und blickte furchtlos empor: „Herr Oberbürgermeister… wir bringen Wasser damit sie uns nicht verdursten!“
Ude antwortete sichtlich erleichtert:
„Das kommt zur rechten Zeit…mein Lieber ich habe wirklich einen höllischen Durst.“ Daraufhin erteilte der Kommandant lautstark den Befehl: „Wasser marsch!“

Aus den aufgerollten Schläuchen spritzte nun das kühle Nass. Mit der rechten Hand schnappte sich Ude die vier Wasserschläuche, beugte seinen Kopf etwas seitlich nach unten, und spritzte sich das Wasser zur allgemeinen Belustigung der Menge direkt in den Mund. Im Nu aber waren die Tanks der Löschfahrzeuge völlig geleert. Bei Udes immensem Magenvolumen waren die zehntausend Liter nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Dennoch, die Erfrischung kam zur rechten Zeit und sein Höllendurst war fürs Erste gelöscht.
Schließlich richtete Dr. Mandarin das Wort an Ude. Er rief:
„Ich würde dir ja gerne den Blutdruck messen, aber das ist jetzt ja nicht mehr möglich. Stattdessen hielt ich es für wichtiger, das du erstmal zu Trinken bekommen hast. Mit Nahrung schaut es natürlich etwas schwieriger aus. Aber sei unbesorgt ich werde mich auch darum kümmern. Ich würde vorschlagen du hebst mich einfach mal hoch, dann muss ich nicht mehr so schreien, aber sei bitte vorsichtig!“

Ude kam der Aufforderung seines Leibarztes unverzüglich nach. Er beugte sich hinab und legte seine hohle Hand auf die Wiese direkt vor Dr. Mandarin und dieser kletterte hinein.
Ude hob ihn nun langsam und vorsichtig in die Höhe.
„Ich habe da einen gewissen Verdacht, weißt du… ich glaube, ja ich bin mir beinahe sicher der Kaktus an dem du dich heute Morgen gekratzt hast hat in irgendeiner Weise mit deinem riesenhaften Zustand zu tun.
„Der Kaktus? Du meinst…“
„Es ist nur so ein Gefühl… es muss irgendeinen Grund geben… ich meine man muss einfach alles in Betracht ziehen. Wir stehen vor einem Rätsel.“
„Ja, in der Tat… ich bin das Rätsel ich komme mir vor wie Gulliver der Riese oder wie Samson… ich fass es nicht.“

„Nein, du musst guten Mutes bleiben. In der Ruhe liegt die Kraft. Wir werden das schon wieder hinkriegen“, antwortete Dr. Mandarin sichtlich bemüht optimistisch zu klingen.
„Ich werde dir nun erstmal etwas Blut abnehmen, um es im Labor untersuchen zu lassen.“
Im nächsten Moment ritzte der Doktor auch schon mit einem Skalpell in die Handinnenfläche auf der er selbst saß, und füllte ein mitgebrachtes Reagenzglas mit dem Blut des Stadtoberhauptes.

„So, das hätten wir. Nun lass mich mal wieder runter, aber vorsichtig.“
Ude setzte seinen Leibarzt nun wieder wohlbehalten auf der Erde ab. Der Doktor sprang von Udes Hand und begab sich sofort zum Polizeipräsidenten der umringt vom bayerischen Ministerpräsidenten sowie Dr. Löffler, Herrn Himmelstoss und Frau Scheibenzuber angestrengt zu diskutieren schien.
„Herr Doktor was haben sie denn mit Ude besprochen. Wie sollen wir nun weiter vorgehen?“ Alle umringten nun neugierig Dr. Mandarin. Sie hingen an seinen Lippen, um nur ja jedes Wort zu hören, welches aus seinem Munde kam.
„Herr Polizeipräsident ich möchte sie bitten mir zwei Beamte mitzugeben, da ich sofort zurück ins Rathaus muss. Es geht darum herauszufinden was passiert ist. Ude hat nämlich heute Vormittag einen neuen Kaktus bekommen und sich später daran gestochen.

Zugegeben klingt reichlich unwahrscheinlich, aber wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen, da wir ja bis jetzt über keinerlei anderweitige Anhaltspunkte verfügen. Ich werde den Kaktus sofort in mein Labor bringen lassen, um ihn dort genauestens untersuchen zu können. Dr. Löffler sowie Herr Himmelstoss nickten.
„Was der Kaktus…den ich gebracht habe…ich kann aber nichts dafür!“, schrie Frau Scheibenzuber aufgeregt
„Beruhigen sie sich. Niemand hat ihnen einen Vorwurf gemacht“, erwiderte Dr. Löffler. Alle pflichteten ihm bei. Was allerdings Frau Scheibenzuber auch nicht davon abhalten konnte trotzdem in Ohnmacht zu fallen. Rettungssanitäter trugen sie auf einer Trage fort.

Der Polizeipräsident blickte nun Udes Leibarzt mit einem grimmigen Blick der wohl totale Entschlossenheit ausdrücken sollte in die Augen:
„Kein Problem Doktor. Sie bekommen jede Unterstützung von mir. Ich gebe ihnen vier Beamte von der SOKO mit und zwei Männer vom Technischen Hilfswerk. Nehmen sie den Hubschrauber, denn anders kommen sie ja nicht mehr durch. Wie soll das alles nur weitergehen?“, stöhnte der Polizeipräsident. Allgemeine Ratlosigkeit zeichnete die Gesichter der hohen Herren.

Mittlerweile war beinahe die gesamte Welt in hellem Aufruhr. China schickte eine Delegation hochrangiger Wissenschaftler. Ebenso die USA, Indien, Japan, Kanada, Australien, Russland, Frankreich und England. Auch im Vatikan war man auf das äußerste schockiert. Der amtierende Papst verstieg sich schließlich sogar zu der Behauptung, das Ende der Welt stünde nun unmittelbar bevor. Udes ungeheure Riesenhaftigkeit könne nur als ein sicheres Zeichen des Teufels gewertet werden. Dieser sei wohl in den armen Oberbürgermeister gefahren. Zugleich bot er aber auch seine Hilfe an – nämlich mehrere seiner besten Exorzisten.

Für Präsident Obama der mittlerweile am Münchner Flughafen gelandet war, stellte sich nun auch die Frage, ob denn der Termin wegen der Eintragung in das goldene Buch der Stadt München überhaupt noch zustande kommen würde. Er äußerte schließlich den Wunsch mit Ude auf jeden Fall sprechen zu wollen. Auch oder gerade trotz seiner Riesenhaftigkeit.
Sein Protokollchef hielt es jedoch für ratsamer davon lieber Abstand zu nehmen. Er meinte es gäbe keine guten Bilder, wenn Obama im Vergleich zu Ude als Zwerg in den Medien erscheinen würde. Schließlich sei der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika doch der mächtigste Mann der Welt. Obama dankte ihm für seinen Rat, meinte aber dennoch, man solle unverzüglich alles Notwendige für eine Unterredung arrangieren.

Dr. Mandarin war inzwischen mit dem Hubschrauber und vier Polizisten ins Münchner Rathaus zurück geflogen. Wie versprochen waren auch zwei Mann vom Technischen Hilfswerk mit dabei die einen stählernen Behälter mit sich trugen. Im Rathaus angekommen eilten sie die Treppen zu Udes Amtszimmer empor. Der Doktor stieß die Tür zu Udes Büro auf und lief zur Fensterbank. Er deutete auf den Schwiegermuttersessel an welchem sich Ude gestochen hatte:
„Packt diesen Kaktus da ein. Aber vorsichtig. Nur mit dicken Schutzhandschuhen bitte.“
Die Männer vom THW packten den stacheligen Kaktus vorsichtig in den mitgebrachten stählernen Behälter und in Begleitung der Polizisten gingen sie nun zu der Praxis von Dr. Mandarin hinüber. Dort angekommen zog sich der Doktor selbst die dicken Schutzhandschuhe über und holte den Kaktus wieder aus dem stählernen Behältnis. Er stellte ihn unter Infrarotlicht und verabschiedete dann die vier Polizisten sowie die Männer vom THW.

„Vielen Dank meine Herren sie können jetzt gehen. Das heißt die Praxis sollte natürlich unter Bewachung bleiben. Allerdings wären Beamte in Zivil besser dafür geeignet.“
Einer der Polizisten nickte zustimmend: „Ich werde das sofort veranlassen. Seien sie unbesorgt.“
Der Doktor widmete nun seine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Kaktus. Er betrachtete ihn sorgfältig. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn. Was war los mit diesem Gewächs? Ude hatte sich am Morgen daran leicht gekratzt und die kleine Wunde hatte eine bläuliche Färbung bekommen. Die gleiche ungewöhnliche Färbung zeigten, wie auch schon am Vormittag, die Innenseiten der etwa dreißig Zentimeter hohen Rippen dieser stacheligen Pflanze.

Er nahm nun eine Einwegspritze und stach damit vorsichtig in den Kaktus. Dann zog er den Kolben zurück, sodass die Kanüle sich zusehends mit einer dunklen, ebenfalls leicht bläulich schimmernden Flüssigkeit füllte. Diesen Extrakt gab er in ein Reagenzglas und verschloss dieses auf das Genaueste.
Daraufhin verließ er die Praxis und ging zurück zum Marienplatz wo der Helikopter bereits auf ihn wartete.
Nachdem er hinein geklettert war startete der Pilot die Maschine und stieg mit lautem Getöse senkrecht empor, um dann in Richtung Norden zum Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching zu fliegen. Unter ihnen ein endlos scheinendes Meer von Menschen, die alle gekommen waren, um einen Blick auf den Titanen zu werfen.

Inzwischen überschlugen sich die Ereignisse im Englischen Garten. Eine lange Wagenkolonne bestehend aus insgesamt sechs gepanzerten Staatskarossen fuhr im Schritttempo durch die Menschenmassen. Flankiert wurden die schwarzen Limousinen von sonnenbebrillten drahtigen jungen Männern in dunklen Anzügen. Die Creme de la Creme des Secret Service. Aus einer der Limousinen entstieg schließlich der amerikanische Präsident.
Die Massen jubelten begeistert. Obama winkte ihnen nur einmal kurz zu bevor er selbst fassungslos zu dem riesigen Stadtoberhaupt von München hinauf starrte.
„Das… das… ist wirklich mehr als beeindruckend… das ist… das ist doch einfach unmöglich!“ stieß er hervor.

Ude hatte sich inzwischen hingesetzt um den Größenunterschied wenigsten wieder zu halbieren.
„Grüß Gott Herr Obama. Fragen sie mich bitte nicht, wie das passieren konnte. Ich kann diese Frage nämlich nicht mehr hören… ich weiß es nicht. Jedenfalls scheine ich nun in der Tat ein Riese zu sein.“
„Ja, das sehe ich“, stieß Obama im atemlosen Tonfall hervor.
„Ich begrüße sie hiermit jedenfalls auf das Herzlichste in unserer Landeshauptstadt München und bedauere zugleich diese unmögliche Situation, für die ich am Allerwenigsten kann… tut mir wirklich leid“, fuhr Ude fort.

„Kein Problem. So etwas hat zwar die Welt noch nicht gesehen, aber wir müssen mit dieser Situation irgendwie klar kommen. Ich meine damit alle. Denn die Welt wird denken Europa ist jetzt in der Lage Riesen herzustellen. Die Welt könnte zudem glauben, dass wir auch fähig sind Soldaten in dieser Größe herzustellen. Das könnte wiederum ein neues Wettrüsten ungeahnten Ausmaßes zur Folge haben. Und das wäre vielleicht nur ein kleiner Teil dessen, was sich vielleicht noch alles verändern könnte.“
Während Ude auf Obama hinab blickte um seinen Worten zu lauschen, bemerkte er gleichzeitig, wie im Rücken des amerikanischen Präsidenten plötzlich Bewegung in der Menge aufkam. Ein Mann mit roter Baseballkappe und cremefarbenem Sakko stürzte hervor. Sein ausgestreckter rechter Arm hielt eine großkalibrige Pistole. Er zielte damit auf Obama.

Aber aufgrund seiner einmaligen Übersicht erkannte Ude natürlich als Erster die bedrohliche Situation. Er hielt sofort seine rechte Hand schützend über Obama. Im gleichen Moment feuerte der Attentäter auch schon mehrere Schüsse auf den Präsidenten ab, die aber aufgrund der schnellen Reaktion von Ude keinerlei Schaden anrichteten. Die Kugeln prallten ohne jede Wirkung von Udes großem Handrücken ab und landeten völlig kraftlos auf der Erde.

Jetzt stürzte sich aber die erregte Menschenmenge auf den Attentäter den man daraufhin nie mehr zu Gesicht bekam. Später hieß es, die aufgebrachte Menschenmenge hätte ihn einfach tot getrampelt oder in Stücke gerissen. Jedenfalls tauchte er tatsächlich nie wieder auf. Der allgemeine Tumult nahm an Hektik nun stetig zu. Die ganze Stadt war im hellen Aufruhr. Von irgendwo her war ein merkwürdiges lang gezogenes Brüllen zu hören. Gerüchte von ersten Plünderungen, sowie unkontrollierten Gewaltexzessen machten ebenfalls die Runde. So grandios und einzigartig diese Situation auch war, manche Menschen drehten völlig durch. Für andere wiederum stand Ude der Riese plötzlich auf der Ebene eines Gottes.

Das normale Weltbild der vielen Menschen, ja beinah der gesamten Menschheit, die ja via Internet live an dem Ereignis teilnahm war urplötzlich ins Wanken geraten. Die Gesetze der Physik, die ansonsten ja unbestreitbar waren, wurden plötzlich alle ad absurdum geführt. Alle Fernsehsender strahlten Sondersendungen aus und riefen zur Besonnenheit auf. Über Megaphone wurden die Menschen immer wieder aufgefordert das außergewöhnliche Ereignis doch zu Hause am Fernseher oder Computer zu verfolgen und den Englischen Garten zu räumen. Doch jeder Appell war vergebens.

Schließlich flogen vier große lärmende Transporthubschrauber herbei aus denen sich Fallschirmjäger der Bundeswehr abseilten. Am Boden angelangt begannen sie die Menge brutal zurückzudrängen und bildeten schließlich einen schützenden Kordon um den Münchner Oberbürgermeister. Während unten das Chaos wütete saß Obama sicher in der hohlen Hand von Münchens Oberbürgermeister, da dieser ihn nach den Schüssen natürlich vorsorglich hochgehoben hatte, um ihn sofort aus der Gefahrenzone zu bringen. Was ihm auch hervorragend gelungen war. Natürlich war diese Aktion von Ude gegen den Willen der Leibwächter gewesen. Aber aufgrund seiner monumentalen Riesenhaftigkeit waren sie zu völliger Tatenlosigkeit verurteilt. Sie waren einfach machtlos.

„Was ist passiert?“, schrie Obama nun aufgeregt. „Das sollte wohl ein Attentat sein“, erwiderte Ude. „Ein Mann mit einer Pistole hat auf sie geschossen, aber er ist überwältigt worden. Die Gefahr ist nun vorüber“, antwortete Ude.
„Ein Attentat? Verdammt… da habe ich ja noch mal Glück gehabt. Vielen Dank Herr Ude.“
„Keine Ursache! Es war mir ein Vergnügen. Es hat also auch seine Vorteile ein Riese zu sein. Trotzdem wäre ich gerne wieder so groß oder besser gesagt so klein, wie ich heute Morgen noch war.“

„Ich kann es ihnen nachfühlen… es ist Unbegreiflich! Das muss eine andere Dimension sein. Vielleicht kann man es irgendwie rückgängig machen. Amerika steht jedenfalls fest an ihrer Seite!“, rief Obama fassungslos.
„Ich danke ihnen“, erwiderte Ude.
Der Präsident stand nun in der hohlen Hand von Ude und ließ staunend und erfreut zugleich seinen Blick umherschweifen. Da er keine Höhenangst kannte genoss er den herrlichen Ausblick über München mit samt seiner beeindruckenden Alpenkette.
„Die Lage hat sich anscheinend wieder beruhigt“, sagte Ude schließlich, „wenn sie wollen dann lasse ich sie jetzt wieder runter!“
„Ja gut!“ rief Obama, „und vielen Dank noch mal.“
Wieder auf dem Erdboden angelangt, begann Obama sofort Gespräche mit dem Stadtratrat und den Mitgliedern der Bayerischen Staatsregierung, die sich ebenfalls alle innerhalb der Bannmeile befanden.

Ude fühlte sich nun plötzlich wieder sehr verloren. Viele Gedanken quälten ihn. Wie war ein Weiterleben, ja eine Existenz als Titan in Zukunft möglich? Er dachte an die Worte seiner Frau. Was sollte er essen? Wie sollte er sich kleiden? Konnte er denn in diesem Zustand das Amt des Oberbürgermeisters überhaupt noch ausüben? Wie sollte er an Sitzungen teilnehmen? Fragen über Fragen. Aber noch war er der Bürgermeister. Er musste also das Heft in der Hand behalten. Aber wie sollte er vorgehen?

In der Münchner Frauenkirche hielt der Erzbischof von München Freising eine flammende Rede. Er bezog in aller Deutlichkeit Stellung gegen die Sektierer, die in dem Münchner Stadtoberhaupt plötzlich so etwas wie einen Gott erblickten, und verurteilte dieses auf das Schärfste. Seiner Meinung nach handelte es sich bei diesem seltsamen Ereignis in Wirklichkeit um einen Terroranschlag von geradezu teuflischer Präzision. Mit Nachruck rief er die anwesenden Gläubigen dazu auf sich an die zehn Gebote zu halten und im Besonderen das erste Gebot zu beachten, welches da lautet:
„Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Er bekräftigte noch einmal, eine Zuwiderhandlung gegen dieses göttliche Gebot sei eine Sünde wider den Herrn. Ein wahrer Christ verfüge über die Fähigkeit durch die Kraft seines Glaubens jeglichen Versuchungen zu widerstehen, seien sie auch noch so groß.
Wer im Angesicht Gottes, dem jeder Christ am Jüngsten Tage unweigerlich gegenüber treten muss, bekennt, dass er einem fremden Gott gehuldigt hat, der wird in die ewige Verdammnis gestoßen werden. In das gierige Höllenmaul wo hässliche Teufel, monströse Schlangen und faulige Dämonen bereits auf ihn warten, um ihn auf ewig gnadenlos zu quälen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Diejenigen aber, die im Angesicht der Versuchung standhaft geblieben sind, wird der Herr weiden auf grünen Auen. Sie werden auferstehen und eingehen in das ewige Himmelreich. Und dort wird Milch und Honig fließen.

Dicht gedrängt standen die Menschen in dem riesigen Kirchenschiff und lauschten angestrengt den Worten ihres Oberhirten. Für kurze Zeit hatten sie doch tatsächlich die Orientierung verloren. Große Zweifel waren bei dem Einen oder Anderen aufgekommen. Wenn so etwas passieren konnte, war das nicht doch ein Zeichen des Himmels?
Doch nun waren sie wieder gestärkt in ihrem Glauben. Grelles Sonnenlicht strahlte diagonal durch die hohen Kirchenfenster. Myraden von Staubpartikeln tanzten im hellen Licht. Die mahnenden Worte des Bischofs hatten ihre aufwühlende und somit stärkende Wirkung nicht verfehlt. Hoch oben in den welschen Türmen der Münchner Frauenkirche läuteten die Glocken Sturm. Das Christentum zeigte deutlich Flagge.

Im Max Plank Institut in Garching bei München war inzwischen eine heftige Diskussion unter den Mitgliedern der Task Force mit dem Namen UDE 01 entbrannt. In dem gläsernen Konferenzraum des dreistöckigen Gebäudes hatten sich inzwischen bedeutende Vertreter der verschiedensten Fachgebiete eingefunden. Darunter bekannte Koryphäen der Nuklear Medizin, Psychologie, Biologie, Informatik, Neurologie, Philosophie, Radioonkologie, Strahlentherapie, Infektiologie, Virologie, Molekulargenetik und der Gentechnologie.
Beim Eintreffen von Dr. Mandarin erhoben sich die Herren, um anschließend wieder Platz zu nehmen. Die Diskussion entbrannte erneut. Nach einer Stunde jedoch verließ Udes Leibarzt leicht genervt den Konferenzraum, um seine Mutter in Brüssel anzurufen.

Sie war natürlich bereits informiert aufgrund der weltweiten Berichterstattung aller Nachrichtenagenturen. Sie meinte deshalb nur lapidar – sie hätte zwar mal von Riesen gehört die plötzlich zu Zwergen wurden und von Zwergen die plötzlich zu Riesen mutierten. Ein Onkel habe ihr auch mal erzählt, dass diese Art der Größen Veränderung immer mit der Aura des jeweiligen Menschen zu tun habe. In so einem Fall sei immer etwas ins transzendentale Ungleichgewicht geraten. Am Besten wäre daher, erst einmal abzuwarten, ob dieser Zustand sich manifestiert oder vielleicht sogar von selbst wieder abklingt. Weiterhin meinte sie die plötzliche Riesenhaftigkeit würde ja die Macht des Stadtoberhauptes nur noch mehr stärken. Im Grunde wäre es sogar von Vorteil, obgleich zugegeben, ein Leben in sozialer Gemeinschaft in Zukunft nur schwer möglich sein dürfte.

Dr. Mandarin fragte schließlich noch, ob es denn irgendeinen Weg geben würde, um den Riesen wieder zum Menschen zu machen. Seine Mutter meinte daraufhin die alten Azteken hätten in so einem Fall den Göttern noch mehr Menschenopfer dargebracht. Da diese Möglichkeit aber definitiv nun Mal nicht bestand, beendete Udes Leibarzt schließlich das unergiebige Gespräch mit seiner Mutter, und ging ratlos in den Konferenzraum zurück.

Dort angekommen dozierte gerade ein Psychologe über die wahre Größe der menschlichen Psyche, die in diesem Fall anscheinend über ihren eigenen Schatten gesprungen sei, und sich in gewöhnliche Materie manifestiert habe. Ihm sei weiterhin bekannt, dass Ude schon als Kind den Wunsch geäußert habe später einmal Bürgermeister zu werden. All sein unbewusstes Denken, Streben und Handeln war also seit jenem denkwürdigen Entschluss in diese Richtung gegangen. Und es war ihm tatsächlich gelungen eine großartige Karriere hinzulegen. Ohne jeden Zweifel auch zum Wohle der Stadt München.
Darüber hinaus bot der Psychologe auch noch an eventuell mit Ude ein Gespräch zu führen, um erstmal eindeutig abklären zu können in welchem Maße denn überhaupt Therapiebedarf bestehe.

Der Physiker und der Nuklearmediziner kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass sich anscheinend Kohlenmonoxid-Moleküle mit elektrischen Feldern vereinigt haben müssten und auf diese Art ein abnormes Zellwachstum entstanden sei. Mann müsse sofort Udes Blut untersuchen, um anschließend mittels eines Detektors eventuelle Veränderungen im Blut nachweisen.
Darauf ergriff Dr. Mandarin wieder das Wort:
„Meine Herren eine von mir persönlich entnommene Blutprobe des Oberbürgermeisters ist bereits im Labor und wird analysiert. Allerdings nicht auf etwaige Verbindungen von Kohlenmonoxid-Molekülen mit elektrischen Feldern. Ich werde das aber sofort veranlassen. Das gleiche gilt natürlich auch für den Extrakt, dem ich den Kaktus entnommen habe.“

Ihm erschienen die Naturwissenschaften seit jeher pragmatischer, als diese oftmals doch sehr konfusen Gedankengebilde der Geisteswissenschaften. Dennoch meinte nun der Philosoph sagen zu müssen, eine metaphysische Erhöhung im Denken von Ude könne durchaus auch zu einer relevanten Größenveränderung geführt haben. Dann wollte er auch noch Schopenhauer und dessen Werk: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ bemühen, doch Doktor Mandarin schnitt ihm nun brüsk das Wort ab:
„Meines Erachtens sollten wir uns hier nicht in theoretischen Exkursen verlieren. Oberste Priorität muss der Gesundheitszustand des Oberbürgermeisters sein. Das heißt, wie können wir ihn ausreichend mit Nahrung versorgen. Das Gebot der Stunde ist es deshalb ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, um eine Versorgung mit Lebensmitteln für die Zukunft sicherzustellen. Denn keiner von uns kann sagen ob Ude jemals wieder so sein wird wie er vorher war. Ich kann nur hoffen, dass uns die Laborbefunde weiter bringen werden. Die Analysen sind im vollen Gange. Erste Ergebnisse werden wir voraussichtlich gegen zwanzig Uhr bekommen. Herr Himmelstoss sie kümmern sich um die Presse. Bleiben sie einfach bei der Wahrheit… sagen sie also wie es ist. Nämlich das wir nicht wissen, was da passiert ist. Dr. Löffler darf ich sie bitten sich um die Logistik bezüglich der Nahrungsaufnahme zu kümmern. Wenden sie sich an die Bundeswehr oder an alle Kantinen und Großküchen in München und Umgebung.“

Dann wandte er sich wieder an die versammelten Wissenschaftler aus aller Herren Länder:
„Meine Herren! Die Task-Force wird rund um die Uhr tagen und wir werden eine Lösung finden. Dessen bin ich mir ganz sicher.“

Dann ging er selbst ins Labor. Er ordnete eine größere Versuchsreihe an. Insgesamt sollten zehn Mäuse mit dem Extrakt aus dem Kaktus infiziert werden. Der Test sollte natürlich im Freien stattfinden für den Fall, dass eine von den Versuchsmäusen ebenfalls riesengroß werden würde. Für diesen Extremfall standen zwei Panzer bereit, ausgerüstet mit hundertzwanzig Millimeter Glattrohrkanonen. Diese sollten die Maus noch im Anfangsstadium, also bevor sie riesengroß werden würde, sofort in Stücke schießen.

Im Englischen Garten war es mittlerweile gegen Abend und ein Teil der Menschenmassen war langsam des Spektakels überdrüssig geworden. Als jedoch im Biergarten am Chinesischen Turm auch noch das Bier ausging, kochte die Volksseele hoch. Die enthemmte Menge fing an zu randalieren. Ja, sie explodierte förmlich. Wie bei einem Vulkan ergoss sich die geballte Aggression der Durstigen wie glühende Lava über das gesamte Gelände des weitläufigen Biergartenareals.

Die Massen zertrümmerten in überschäumender Wut die komplette Einrichtung. Selbst der fünfundzwanzig Meter hohe Chinesische Turm, der siebzehnhundertneunzig – nach einem Entwurf von Joseph Frey und Johann Baptist Lechner errichtet worden war – musste dran glauben. Alles wurde kurz und klein geschlagen bis schließlich wieder ein Rollkommando der bayerischen Bereitschaftspolizei in gewohnter Manier für Ruhe und Ordnung sorgte. Doch die normale Ordnung war nicht wieder herzustellen. Es herrschte Ausnahmezustand, ohne dass dieser seitens der Behörde ausgerufen worden war.

Die Schwüle wurde langsam unerträglich und der Himmel über München hatte sich mittlerweile bedrohlich verdunkelt. Die Schatten wurden immer länger und der Himmel nahm zeitweilig die Farbe türkisgrünen Wassers an. Riesige Unheil verkündende Kaskaden von jählings sich auftürmenden Wolken jagten einander. Orkanartige Windböen fegten völlig losgelöst umher und entwurzelten zahlreiche Bäume deren dicke Äste ungewollt als Todesboten fungierten. Die Menschen schrieen, einige wurden erschlagen oder schwer verletzt. Die Naturgewalten ließen in einem beeindruckenden Akt der Überlegenheit gnadenlos ihre brachialen Muskeln spielen.

Ein Gewitter ungeheuren Ausmaßes kündigte sich auf diese Weise an. Zudem war ein seltsames Grollen zu vernehmen, aber keiner wusste genau woher es kam oder was es bedeuten sollte. Es schien jedoch nichts mit dem sich anbahnenden Unwetter zu tun zu haben.
Ein riesiger Schwarm Krähen flog plötzlich herbei und schien Ude zu begutachteten. Sie umkreisten ihn mehrere Male. Sie wägten wohl ab, ob sie sich auf ihm niederlassen sollten, zogen es dann aber doch lieber vor weiter zu ziehen.
Ude selbst hatte die letzten Stunden damit verbracht immer wieder mal wagemutige Münchner in seiner hohlen Hand hoch zu heben damit diese auch den herrlichen Ausblick genießen konnten. Es wurde dazu immer eine Gruppe von zwanzig Personen in den Sperrkreis vorgelassen die geduldig wartete, bis sie an der Reihe waren.

Das Grollen ja beinahe Brüllen wurde nun immer noch lauter. Als erster bemerkte natürlich Ude selbst, dass dieses merkwürdige Knurren von ihm selbst kam. Es war nämlich sein Magen, der sich hungrig wie er nun einmal war, knurrend zu Wort meldete, da er ja seit sieben Uhr morgens – um diese Zeit pflegte Ude immer sein Frühstück einzunehmen – nichts mehr gegessen hatte. Das Rumoren seines leeren Magens nahm beinahe apokalyptische Ausmaße an und wurde schließlich auch noch von dem tatsächlichen Donner des herannahenden Gewitters untermalt.

Dadurch aber hatten es die vielen Schaulustigen schließlich doch wieder mit der Angst bekommen und plötzlich wollte keiner mehr von Ude hochgehoben werden. Im Gegenteil die Menge mied ihn plötzlich wegen der bedrohlichen Geräusche. Außerdem natürlich auch wegen der Tatsache, dass bei einem Gewitter Ude aufgrund seiner Riesenhaftigkeit bestimmt einen Blitz auf sich ziehen würde. Denn bei seiner Größe war diese Vermutung sicherlich nicht unberechtigt. Dr. Löffler eilte herbei und versicherte seinem Chef er werde alles tun, um ihn bald möglichst mit Nahrung zu versorgen. Im nächsten Moment aber donnerte und blitzte es, als wäre wirklich das Ende der Welt gekommen. Grelle Blitze zuckten bedrohlich aus den schweren dunklen Wolken. Die Menge schrie auf und suchte ihr Heil in der Flucht. Ude setzte sich wieder hin und versuchte verzweifelt sich so klein wie möglich zu machen um nur ja nicht von einem Blitz getroffen zu werden. Doch es war bereits zu spät. Ein kugelförmiges Leuchtgebilde schlug mit einem lauten Knall in den armen Oberbürgermeister ein. Aber zum Erstaunen aller, und das waren ja nicht gerade Wenige, stand Ude plötzlich auf breitete die Arme aus, und stieß einen gellenden Schrei aus.

Seltsamerweise aber bildete sich nun um seinen gesamten Körper ein weißer Strahlenkranz, der anscheinend die Funktion eines Blitzableiters ausübte. War das etwa ein Schutzschild oder ein geheimnisvolles Energiefeld, welches Ude vor dem Schlimmsten bewahrte oder handelte es sich dabei um eine undurchdringliche Aura, die letztendlich auf einer Katalysatorfunktion beruhte.
Jedenfalls gab es plötzlich wieder einen schrecklich lauten Knall, der dem eines Überschallflugzeuges glich, und die riesenhafte Gestalt von Ude war urplötzlich von einer riesigen bernsteinfarbenen Wolke umhüllt, sodass er überhaupt nicht mehr zu sehen war. Grelle zackige Blitze zuckten aus der Wolke. Sintflutartiger Regen setzte ein.

Nachdem der alles ins Vergessen stürzende Regen endlich wieder nachgelassen hatte und man langsam wieder etwas sehen konnte traute Dr. Löffler seinen Augen nicht. Sein Chef lag rücklings mit ausgestreckten Armen auf der überfluteten Wiese. Er war aber nun kein Riese mehr. Er hatte anscheinend wieder normale Gestalt angenommen, aber offensichtlich war er bewusstlos. Die Leute die sich innerhalb des Sperrkreises aufhielten eilten aufgeregt herbei.
Dr. Löffler und Herr Himmelstoss hoben Ude nun gemeinsam hoch und legten ihn behutsam in den Fond einer gepanzerten Limousine. Als jedoch mehrere Sanitäter sowie zwei Ärzte herbei eilten um Erste Hilfe zu leisten erwachte Ude plötzlich aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit.
Sofort begann er freudig lauthals zu schreien: „Ich bin wieder normal groß! Ich bin kein Riese mehr. Ich kann es noch gar nicht glauben… Ich…!“
„Ja, sie haben es geschafft der Spuck ist vorbei!“ schrie Dr. Löffler.

Auch Obama umringt von glatzköpfigen Bodyguards eilte herbei.
„Das ist ja fantastisch!“ rief er aus, „dann kann ich mich ja doch noch in das goldene Buch der Stadt München eintragen.“
„Ja, sie sagen es… das Protokoll. Gute Idee.“ erwiderte Ude. Steigen sie ein, wir fahren sofort zum Rathaus. Herr Himmelstoss veranlassen sie alles und besorgen sie mir was zum Anziehen und sagen sie meiner Frau Bescheid. Sie soll sofort ins Rathaus kommen.“
Anschließend machte sich der Konvoi auf den Weg zum Marienplatz. Die Menschenmassen hatten sich zwischenzeitlich so gut wie aufgelöst. Das heftige Gewitter sowie der sintflutartige Regen hatten natürlich nicht unwesentlich mit dazu beigetragen. Im Rathaus angekommen zog sich Ude kurz in die Pförtnerloge zurück, um die dort für ihn bereitliegende Kleidung anzuziehen und begab sich anschließend in seine geliebte Kantine um dort erstmal wie gewohnt sein Geschnetzeltes zu essen.

Hier ließ es sich seiner Meinung nach nämlich noch immer am besten speisen. Er zog die Kantine allen umliegenden Restaurants vor, und das waren nicht gerade wenige. Auch Obama gönnte sich ein saftiges Schnitzel mit Pommes. Nach dem Essen ging man dann hoch um endlich die überfällige Eintragung in das goldene Buch der Stadt München vorzunehmen.
Im grellen Blitzlichtgewitter der anwesenden Pressemeute nahm Obama freudig lächelnd den goldenen Stift aus der Hand des Oberbürgermeisters entgegen, und schrieb in das goldene Buch, dass dieser Tag für ihn immer in unvergesslicher Erinnerung bleiben werde.

In der anschließenden Pressekonferenz erklärte Ude auf die stürmischen Fragen der zahlreichen Reporter, dass er im Moment nicht in der Lage sei zu dem unglaublichen Ereignis des heutigen Tages Stellung zu nehmen. Er sei aber froh wieder der Alte zu sein und werde in den nächsten Tagen, wenn er sich von dem Schock erholt habe, ausgiebig alle Fragen beantworten.
Schließlich kam Tumult auf. Im grellen Blitzlichtgewitter stürmte Udes Frau in Begleitung von Dr. Mandarin sowie Herrn Himmelstoss und Dr. Löffler in den Raum. Seine Gattin warf sich sofort auf ihren Mann und beide umarmten sich auf die allerherzlichste Art und Weise. Alle Anwesenden waren tief berührt und klatschten begeistert Applaus.

Am nächsten Tag – Obama war inzwischen abgereist – saß Ude wieder hinter dem großen Schreibtisch in seinem Amtszimmer und versuchte den gestrigen Tag irgendwie rational einzuordnen. Der Marienplatz war immer noch abgesperrt, sodass es draußen ungewöhnlich ruhig war. Doch es gelang ihm nicht wirkliche Klarheit in seine Gedankengänge zu bringen. War er tatsächlich ein Riese gewesen? Ein wahrer Titan. Er konnte und wollte es einfach nicht wahrhaben. Doch die Videos im Internet sowie das vielfältige Bildmaterial, die Millionen Augenzeugen, ja die ganze Welt, all das war ja Realität. Daran gab es keinen Zweifel. Schließlich konnte soviel Beweismaterial nicht einfach gefälscht sein. Vor allem nicht in so kurzer Zeit.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Tür aufgerissen und Dr. Mandarin stürmte herein. Dadurch wurde Ude sehr zu seinem Leidwesen jählings aus seinen Gedanken gerissen. Er blickte mit großen Augen auf seinen Leibarzt, brachte jedoch keinen Ton heraus.
„Weißt du was? Du hast verdammt noch mal großes Glück gehabt!“, rief Dr. Mandarin aufgeregt.
„Wie bitte…?“ entgegnete Ude völlig entgeistert.
„Ja, in der Tat… du hattest verdammt noch mal viel Glück im Unglück. Ich habe nämlich gestern noch eine große Versuchsreihe gestartet. Die Versuchsanordnung war Folgende: Wir haben zehn gewöhnliche Labormäuse mit dem Extrakt aus dem Kaktus infiziert und weißt du was passiert ist?“
„Nein… woher sollte ich das wissen. Aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.“
„Ja, ich werde es dir nun sagen. Das Ergebnis war, dass alle Mäuse nacheinander total winzig wurden. Sie haben jetzt alle die Größe einer gewöhnlichen Stubenfliege.“
„Interessant. Aber warum habe ich dann Glück gehabt?“, entgegnete Ude.

Na, ganz einfach. So wie es scheint hat der Kaktus irgendeine Kraft in sich, um Gegenstände entweder riesengroß zu machen oder total klein. Nach was für einem System das Ganze funktioniert wissen wir natürlich immer noch nicht. Ich vermute einen Fluch oder irgendeine Zauberei. Das ist und bleibt bis jetzt unerklärlich. Dein Glück war, dass du Erstens riesengroß geworden bist, und Zweitens, dass das Unwetter und der dadurch entstandene Kugelblitz bei dir offensichtlich eine Entladung bewirkt haben, die dich Gott sei Dank wieder auf Normalgröße reduziert hat. Wärest du winzig klein geworden, also Stubenfliegengröße, dann hätte dieser Entladungsvorgang so nicht stattfinden können.“

„Ich verstehe… ich hätte dann jetzt immer noch die Größe einer Stubenfliege und wahrscheinlich sogar für alle Zeiten!“
„Genau so ist es. Was auch immer passiert ist, das Unwetter war also ein Glücksfall für dich. Denn ohne Gewitter kein Kugelblitz somit keine Entladung und damit keine Schrumpfung deiner Person auf Normalgröße. Eine Stubenfliege wurde ja schließlich noch nie von einem Blitz getroffen. Oder hast du so etwas schon einmal gehört?“
„Nein, das dürfte wohl absolut unmöglich sein. Du hast Recht“, antwortete Ude mit leicht gerunzelter Stirn.

Im nächsten Moment stürmte Herr Himmelstoss in den Raum. Der Referent erinnerte das Stadtoberhaupt daran, dass für fünfzehn Uhr eine außergewöhnliche Stadtratssitzung vereinbart war.
„Jessas! Die Sitzung, die hätte ich doch glatt vergessen. Da sehen sie mal Herr Doktor wie es um mich steht. Das wäre mir früher nie passiert.“
„Beruhigen sie sich dafür bin ich ja da. Sie glauben ja gar nicht wie froh ich bin, dass der Spuk nun endlich vorbei ist und sie wieder der Alte sind“, erwiderte Herr Himmelstoss im erleichterten Tonfall.
Dr. Mandarin entgegnete, das er leichte Zweifel habe ob Ude schon wieder ganz der Alte sei, aber mit Sicherheit sei er auf gutem Weg dazu.

Anschließend gingen sie gemeinsam in das alte Rathaus hinüber um an der außerordentlichen Stadtratssitzung teilzunehmen.
Dort angekommen beschuldigte die Opposition Ude geradewegs der Hexerei, worauf dieser trocken konterte: „Das Zeitalter der Inquisition sei nun aber wirklich vorüber.“
„Ich an ihrer Stelle wäre mir da nicht so sicher!“ schrie ein wütender Opponent.
Die Stimmung im Saal war auf eigentümliche Art und Weise vergiftet. Das unglaubliche Ereignis des gestrigen Tages zeigte nun katastrophalen Folgen.

Udes Autorität war erheblich angekratzt. Man nahm ihn oder besser gesagt, man konnte und wollte ihn einfach nicht mehr ernst nehmen. Ein Mensch, der in der Lage war urplötzlich so groß wie der Münchner Rathaus Turm zu werden, dem war in letzter Konsequenz ja alles zuzutrauen. Sowohl im Positiven, wie auch im Negativen. Und auch Ude selbst war einfach nicht mehr derselbe, der er früher einmal gewesen war. Zudem wurden er und seine gesamte Familie von allen Seiten unentwegt bedrängt und bestürmt. Andauernd wurden Fragen gestellt, sodass die Familie einfach kein stressfreies Leben mehr führen konnte.

So zog sich die gesamte Familie erstmal zurück. Nach Mykonos zu fliegen erschien jedoch aussichtslos angesichts der Menschenmengen, die dort bereits ungeduldig auf Münchens Oberbürgermeister warteten. Wo also hin? Da kam Udes Frau auf die scheinbar rettende Idee erstmal in Tirol unterzutauchen. Doch leider wurde Ude auch dort sofort erkannt. Der rettende Ausweg war schließlich eine sündteure Gesichtsmaske, eine Art zweiter Haut aus Silikon, die ihn tatsächlich fürs Erste völlig unkenntlich machte.

An ein früheres Leben war aber nun in keiner Weise mehr zu Denken. Das Allerschlimmste jedoch war die neue Sekte, die Ude doch tatsächlich zum Gott erklärt hatte. Die Udeaner. Sie hatten das Udentum ausgerufen. Bürgerkriegsähnliche Umstände bahnten sich an. Auch der Islam fühlte sich auf den Schlips getreten: „Was, schon wieder eine neue Religion? Mit uns nicht!“
Ude versuchte anfangs noch über die Medien und auch in persönlichen Pressekonferenzen beschwichtigend auf die erregten Gemüter einzuwirken, doch dadurch wurde alles noch viel schlimmer. Ein Wespennest bar jeglicher Vernunft.

Nach wochenlangen endlosen Diskussionen im engsten Familienkreis, wohin man den gehen sollte, um all diesem Wahnsinn im alten Europa ein für allemal zu entfliehen beschloss die Familie Ude nicht zuletzt auch auf Anraten von Dr. Mandarin sich auf der Insel St. Helena niederzulassen. Eine Tante von Udes Leibarzt unterhielt auf dieser Insel im südlichen Atlantischen Ozean seit langem eine gutgehende Taubenzucht.

So kam es, dass Münchens Oberbürgermeister seinen wohlverdienten Lebensabend glücklich und zufrieden auf St. Helena verbrachte. Einmal im Monat, gönnte er sich immer um die gleiche Zeit, einen Besuch im St. Helena Museum.

Ende

© 2009 J. Bambulie

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