Montag, 20. Juni 2011

Der Titan 1

Der Titan 1

In dieser Geschichte wird Münchens Oberbürgermeister Christian Ude plötzlich so groß wie der Münchner Rathausturm. Chaos bricht aus.
Die Bilder gehen um die Welt. Zu allem Unglück besucht auch noch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Barack Obama genau an diesen verhängnisvollen Tag die Stadt München, um sich in das goldene Buch der Stadt einzutragen.


Um neun Uhr morgens betrat Münchens Oberbürgermeister sein Arbeitszimmer im Rathaus. Der Urlaub auf Mykonos war wieder einmal vorüber. Kaum hatte er jedoch in seinem Sessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch Platz genommen, klopfte es auch schon an die Tür.
„Ja, Bitte!“ rief Herr Ude.
Die Tür seines Arbeitszimmers öffnete sich einen Spaltbreit und ein rundes lachendes Gesicht mit einer fast perfekten Föhnfrisur lugte herein:
„Grüß Sie Gott. Ich bin es Frau Scheibenzuber. Ich bringe den neuen Kaktus. Sie wissen schon, der hätte doch schon vor einer Woche kommen sollen. Eigentlich wollte ich ihn ja…“
„Grüß Gott Frau Scheibenzuber! Ja, der Kaktus richtig. Kommen sie nur herein…“, antwortete Herr Ude. Gleichzeitig stand er auf und ging zur Tür, um ihr behilflich sein zu können.
„Lassen sie mal sehen… Aha! Ein echter Echinocactus grusonii. Im Volksmund einfach Schwiegermutterstuhl genannt und was für ein schönes Exemplar!“, rief Herr Ude bewundernd aus, während er voller Neugier auf die stachelige Pflanze blickte.
“Stellen sie ihn doch bitte erstmal hierher auf den Schreibtisch.“

„Wissen sie… Herr Ude! Letzte Woche ist mir doch glatt etwas dazwischen gekommen, sodass ich es vor ihrer Rückkehr aus dem Urlaub nicht mehr rechtzeitig geschafft habe.“
„Kein Problem Frau Scheibenzuber… das macht gar nichts. Hauptsache der Kaktus ist jetzt da. Der passt nämlich sehr gut zu meiner Sammlung. Ich hoffe nur ihnen ist nichts wirklich Schlimmes dazwischen gekommen?“
„Eine Zecke hat mich gebissen, deswegen war ich beim Doktor, und der hat mir gleich eine Spritze verpasst.“
„Ja, da haben sie richtig gehandelt. Mit so etwas spaßt man nicht. Gleich zum Fachmann, das ist das Beste!“
„Und wie war’s auf Mykonos?
„Herrlich! Wie jedes Jahr… aber die Termine drängen nun mal. Und wenn man nicht aufpasst, dann kann es einem doch glatt passieren, dass man noch zum Sklaven des eigenen Amtes wird“, erwiderte Herr Ude lachend. Erneut klopfte es an der Tür und sein persönlicher Referent Herr Himmelstoss, ein Mann im dunkelblauen Anzug, betrat das Amtszimmer.

„Guten Morgen Herr Ude. Guten Morgen Frau Scheibenzuber…. äh… ich hätte da etwas Wichtiges mit ihnen zu besprechen Herr Ude…“
„Ja, ich bin schon wieder weg…“, meinte daraufhin Frau Scheibenzuber blitzschnell die Situation erkennend und fügte hinzu: „also Herr Ude, wenig Wasser nur einmal im Monat gießen und viel Sonne. Aber wem sag ich das, sie sind ja der Fachmann.“
„Aber Frau Scheibenzuber stellen sie ihr Licht doch nicht immer unter den Scheffel“, erwiderte Herr Ude sichtlich belustigt.
Anschließend verabschiedete sie sich per Handschlag von den beiden Herren und verließ das Büro.

„Setzen wir uns“, sagte Herr Ude nun zu Herrn Himmelstoss.
„Stört sie der Kaktus?“ „Nein überhaupt nicht, ein wirklich schönes Exemplar“, antwortete dieser elegant und fügte bedeutungsvoll hinzu, „Herr Ude stellen sie sich vor… gerade eben habe ich erfahren, dass Obama München besuchen will.“
„Was Obama?“
„Ja, die Meldung gibt es natürlich offiziell noch gar nicht, aber es ist trotzdem so gut wie sicher. Löwitz hat es mir erzählt. Er hat eine seiner zahlreichen Quellen angezapft. Er meint die US Administration würde das wahrscheinlich in den nächsten vierundzwanzig Stunden offiziell verlautbaren lassen.“
„Das wäre ja eine tolle Sache, antwortete Herr Ude sichtlich angenehm überrascht. „Obama besucht München, das ist ja mal eine gute Nachricht Meyerbeer!“, rief Münchens Oberbürgermeister und klopfte sich begeistert auf beide Schenkel.
„Löwitz hat es ihnen erzählt?“
„Ja, Löwitz.“
„Auf den ist ja für gewöhnlich Verlass. Er soll ja über die besten Quellen verfügen. Und für wann soll der Besuch geplant sein? Ist darüber auch etwas bekannt?“
„Löwitz meinte… es könnte grundsätzlich jederzeit sein…“
„Na gut, dann lassen wir uns einfach mal überraschen, was anderes bleibt uns ja auch gar nicht übrig“, meinte Herr Ude schmunzelnd.

Anschließend entnahm der Referent seiner grünen Mappe einige Dokumente.
„Ich muss ihnen nun noch etwas zeigen, nämlich die neuesten katastrophalen Einschätzungen bezüglich der Gewerbesteuer.“ Bei diesen Worten hantierte Herr Himmelstoss aber so ungeschickt mit den Papieren, sodass eines davon zu Boden fiel. Um das Dokument wieder aufheben zu können, wollte er nun seinen Laptop auf dem Schreibtisch abstellen. Doch dabei war ihm wieder der stachlige Kaktus im Weg. Daraufhin stand Herr Ude mit den Worten auf: „Moment mal ich stell jetzt erst mal den Kaktus dahin, wo er hingehört, nämlich ans Fenster in die Sonne.“

Doch beim Versuch den Kaktus mit beiden Händen hochzuheben stieß er mit dem rechten Fuß gegen die Teppichkante, fing sich aber wieder.
Dadurch aber berührte er mit der Innenseite seines rechten Unterarms den stacheligen Kaktus und verletzte sich leicht. Ein kleiner Kratzer.
Herr Ude blickte kurz auf die Stelle und sagte dann zu seinem Referenten:
“Na, so was aber auch, jetzt hab ich mich doch glatt noch gestochen.“
Dieser antwortete schlagfertig wie er nun einmal war:
„Tja, wer die Gefahr sucht, der wird darin umkommen.“ Beide lachten.

Schließlich stellte Herr Ude das stachelige Prachtstück auf der breiten Fensterbank ab. Danach betrachtete er noch einmal, dieses Mal im grellen Sonnenlicht, die kleine Wunde an der Innenseite seines rechten Handgelenks. Sie hatte sich mittlerweile leicht gerötet. Da es aber nur ein Kratzer war schenkte er dem ganzen Vorfall keine weitere Bedeutung.

Herr Himmelstoss hatte inzwischen seine grüne Mappe geöffnet und einen Wust von Dokumenten auf dem Tisch des Oberbürgermeisters ausgebreitet. Der Referent unterrichtete nun das Stadtoberhaupt über die wichtigsten anstehenden Termine. Schließlich kam auch noch der Stadtkämmerer Dr. Löffler hinzu. Ein wuchtiger Mann, in feinstes Tuch gekleidet, und immer leicht schwitzend.
„Grüß Sie Gott meine Herren. Tut mir schrecklich leid, aber ich wurde aufgehalten.“
„Nur keine Hektik Herr Dr. Löffler. Rom wurde ja schließlich auch nicht an einem Tag erbaut“, antwortete das Münchener Stadtoberhaupt freundlich lächelnd. Gemeinsam besprach man nun die aktuelle Lage, sowie die neuesten Informationen.

Dr. Löffler bestätigte die negativen Zahlen von Meyerbeer bezüglich der Gewerbesteuereinnahmen. Der Grund für diesen exorbitanten Rückgang sei natürlich die allgegenwärtige Finanzkrise. Herr Ude hörte aufmerksam zu. Doch plötzlich fühlte er, wie eine leichte Übelkeit in ihm hochkam.
Er hatte das Gefühl, als würde irgendetwas in seiner Brust versuchen sich ausdehnen zu wollen. Ein leichter Schwindel kam hinzu. Der Herr Referent bemerkte natürlich sofort die schlagartige Befindlichkeitsstörung des Oberbürgermeisters. Offensichtlich fühlte sich Herr Ude gar nicht wohl. Auch Dr. Löffler blickte mit nach oben gezogenen Augenbrauen besorgt auf Herrn Ude. Das Blut war mittlerweile völlig aus dessen Gesicht gewichen. Das Stadtoberhaupt rang sichtlich nach Luft. Gleichzeitig begann er an seiner Krawatte zu zerren, und nestelte nervös an seinem Hemdkragen.

„Einen Arzt… wir müssen sofort einen Arzt holen!“ rief Dr. Löffler aufgeregt. Daraufhin lief der Referent sofort hinaus ins Vorzimmer um Frau Beck, der Vorzimmerdame Bescheid zu geben. Anschließend kam er wieder mit einem Glas Wasser zurück. Zwischenzeitlich hatte der Stadtkämmerer eines der hohen Fenster weit geöffnet.
Das Stadtoberhaupt saß nun auf einem Stuhl direkt vor dem geöffneten Fenster. Der Referent reichte ihm ein Glas Wasser. Auch Frau Beck war mittlerweile herbei geeilt um ihrem Chef fürsorglich mit einem nassen Lappen die schweißbedeckte Stirn zu tupfen.

„Die Hitze…das wird wohl die Hitze sein!“ rief sie aus. Wir haben jetzt schon 35 Grad… dabei ist es erst zehn Uhr morgens.“
Herr Himmelstoss und Dr. Löffler pflichteten ihr bei.
„Nein die Hitze bin ich gewohnt… das glaube ich nicht. Der Kreislauf… das wird wohl mein Kreislauf sein“, antwortete Herr Ude. „Ja, natürlich wegen der Hitze“, antwortete Frau Beck. Im nächsten Moment traf der Arzt ein. Es war Doktor Mandarin der Leibarzt des Münchner Oberbürgermeisters. Seine Praxis befand sich praktischerweise in der Weinstraße, also in unmittelbarer Nähe des Rathauses.

„Herr Ude ich grüße sie. Na, was machen sie mir den für Sachen“, sagte Dr. Mandarin sichtlich besorgt, während er sofort die gepolsterte Manschette um den linken Oberarm des Bürgermeisters legte, um dessen Blutdruck zu messen. Beide kannten sich bereits seit über zehn Jahren.
Auch Dr. Mandarin besaß nämlich ein Haus auf Mykonos. Kennen gelernt hatten sich die beiden seinerzeit in der Toskana. Anschließend besuchte dann Dr. Mandarin mehrmals die Familie Ude auf Mykonos. Es dauerte nicht lange bis er sich schließlich ebenfalls dazu entschloss ein Haus auf Mykonos zu bauen. Und er hatte es nie bereut.
Er war ein großer stattlicher Mann mit Stirnglatze und ebenmäßigen Gesichtszügen. Er war füllig ohne jedoch dick zu sein. Seine Vorfahren kamen aus Südamerika. Seine Mutter Dolores Manchito war früher als Schiffsärztin tätig gewesen. Zu ihrer Zeit hatte sie überwiegend auf Kreuzfahrtschiffen ihren Dienst verrichtet. Dabei hatte sie auch ihren Mann kennengelernt. Er war damals Kapitän zur See gewesen und steuerte so manch großen Pott über die Weltmeere. Mittlerweile waren die Manchitos aber hoch betagt und genossen ihren Ruhestand. Sie verbrachten ihren wohlverdienten Lebensabend in einem Brüsseler Seniorenstift.

Doch im nächsten Moment schien es – zur allgemeinen Überraschung aller Anwesenden – als habe sich Herr Ude urplötzlich wieder völlig erholt. Denn erhob er sich behände von seinem Stuhl und sagte mit fester Stimme:
„Ja, meine Herren… ich hatte wohl eben einen Kreislaufkollaps.“
„Ja, sieht ganz danach aus“, antwortete Udes Leibarzt, „aber um das genauer abklären zu können werde ich sie jetzt kurz in meine Praxis entführen. Wir machen da einen kleinen Checkup und keine Widerrede.“
Herr Ude wusste, dass es so gut wie keinen Sinn machte dem Doktor zu widersprechen. Vor allem dann nicht, wenn seine Stimme diesen eigenartigen metallischen Klang annahm. Auch an seinen Augen konnte er deutlich erkennen, dass die Lage, entgegen der nach außen zur Schau getragenen Zuversicht, im Grunde viel ernster sein musste.
Ude wandte sich daraufhin an Dr. Löffler und Herrn Himmelstoss:
„Ja, meine Herren… tut mir leid, aber dann muss ich sie eben bitten mich zu entschuldigen. Sie sehen ja der Doktor meint es ernst. Machen wir also morgen weiter.“

Dr. Löffler und Herr Himmelstoss verabschiedeten sich daraufhin vom Münchner Stadtoberhaupt – nicht aber ohne vorher noch gute Besserung zu wünschen.
„Was hast du eigentlich da am Arm gemacht“, fragte nun Dr. Mandarin eher beiläufig. Wenn sie unter sich waren duzten sie sich. Die Würde des Amtes sollte ja stets gewahrt bleiben. „Wo…?“ antwortete Ude. „Ach… du meinst hier am Arm“, bei diesen Worten blickte er auf die winzige Wunde, „da hab ich mich an dem neuen Kaktus gestochen.“
„Zeig mal her, da hat sich ja ein kleiner blauer Kreis gebildet, genau um den Einstich.“ Herr Ude blickte auf die besagte Stelle.
„Ja, tatsächlich. Was hat das zu bedeuten?“
„Vielleicht eine allergische Reaktion. Zumindest sieht es ganz danach aus. Ich muss sofort dein Blut untersuchen.“
„Wann hast du dich eigentlich gestochen und an welchem Kaktus?“, wollte Udes Leibarzt nun wissen. Es standen nämlich eine Menge Kakteen auf der breiten Fensterbank.
„Wann…? Ja… etwa vor einer Stunde. Und gestochen habe ich mich an diesem Schwiegermuttersessel dort drüben.“

Dr. Mandarin sah sich nun neugierig den neuen Kaktus an. Er war etwa dreißig Zentimeter hoch und hatte lange senkrechte stachelige Rippen. Auf den länglichen Kanten zeigten sich rosafarbene Knospen. Die Innenseiten der Rippen schimmerten seltsamerweise leicht bläulich.
Dr. Mandarin schien es, als würde dieser Kaktus innerlich leicht pulsieren. Er kannte ihn auch von vielen bildlichen Darstellungen sowie von zahlreichen Skulpturen der alten Azteken. Diese Pflanze hatte im Reich der Azteken eine große rituelle Bedeutung gehabt – auf ihr wurden auch Menschenopfer dargebracht.
„Ein wirklich schönes Exemplar“, stellte Dr. Mandarin schließlich bewundernd fest.
„Aber jetzt gehen wir doch besser in meine Praxis. Komm lass uns gehen.“

Auf dem Weg nach unten kam ihnen auf der Treppe des Rathauses ein älterer Münchner Bürger entgegen.
„Herr Ude. Entschuldigen sie bitte… wenn ich sie hier einfach so überfalle. Aber gestern wollte ich auf den Rathausturm hinauf doch der Zutritt wurde mir verwehrt. Und das obwohl ich doch ein echter Münchner bin.“
Herr Ude der eigentlich vorhatte den Mann höflich aber bestimmt auf die Bürgersprechstunden zu verweisen stutzte plötzlich und schmunzelte.
„Na, das ist aber ein starkes Stück. Ein echter Münchner. Und dann lässt man sie nicht mal auf den Rathausturm oder wollten sie etwa den Eintritt nicht bezahlen?“
„Das ist es ja gerade. Ich habe einen München Pass. Doch die Dame, die da oben an der Kasse sitzt kennt diesen Pass nicht einmal. Sie hat dieses amtliche Dokument einfach nicht anerkannt.“
„Das gibt’s doch nicht“, antwortete Herr Ude sichtlich verblüfft.
„Aber ich verspreche ihnen ich werde mich persönlich darum kümmern. Jetzt entschuldigen sie mich aber bitte ich muss nun wirklich weiter.“
„Ja, natürlich. Vielen Dank auch… Herr Ude.“

Dr. Mandarin und Münchens Oberbürgermeister verließen daraufhin gemeinsam das Münchner Rathaus. Draußen brannte die Maisonne auf das glühende Pflaster. Schatten und gleißendes Licht wechselten gegeneinander. Wie immer warteten viele Touristen geduldig auf den Beginn des alltäglichen Glockenspiels. Ude zeigte plötzlich beiläufig in Richtung Kaufhof dessen Außenfassade nun schon seit sechs Wochen renoviert wurde. Der Bau war vollkommen eingerüstet und komplett mit weißen Stoffbahnen umhüllt.
„Die werden auch nicht mehr fertig“, sagte er kopfschüttelnd und Dr. Mandarin meinte trocken: „Sieht beinahe aus wie ein Werk des Verhüllungskünstlers Christo.“

Sie schritten weiter in Richtung Donisl. Urplötzlich jedoch bemerkte Herr Ude aber, dass er sich anscheinend immer mehr vom Boden entfernte. Er blieb abrupt stehen. Gleichzeitig schienen seine Füße immer kleiner zu werden. Zugleich überkam ihn das unbestimmte Gefühl, als würde er langsam aber sicher immer größer werden. Sein Anzug spannte sich schon auf äußerst unangenehme Art und Weise. Auch sein Schuhwerk wurde immer enger und dann ging es plötzlich Schlag auf Schlag. Als erstes zerriss sein Jackett. Am Rücken, vom Kragen abwärts klaffte plötzlich ein langer Riss. Schließlich platzte auch noch seine Hose. Entsetzt schrie Ude auf.

Dr. Mandarin rieb sich mit einem Ausruf des ungläubigen Erstaunens die Augen, und starrte benommen nach oben auf den immer größer werdenden Ude. War das wirklich möglich oder unterlag er am Ende etwa einer Sinnestäuschung. Doch im nächsten Moment flogen die Knöpfe vom Anzug des Münchner Oberbürgermeisters wie Querschläger durch die Luft. Dies war eine eindrucksvolle Bestätigung dafür, dass es sich mit Sicherheit um keine Sinnestäuschung handelte.

Schließlich zerbarsten auch die Nähte seiner schwarzen Schuhe. Seine gesamte Kleidung zerriss unter der brachialen Ausdehnung seines Körpers. Alles was er am Leib trug platzte auf und die Fetzen flogen wie wild durch die Luft. Am Ende auch noch die gesamte Unterwäsche. Herr Ude wurde immer größer und noch größer. Anfangs geschah es wie in Zeitlupe. Doch die letzten Meter schoss er dann förmlich in die Höhe. Allgemeine Panik griff um sich. Die Menschen fingen an zu schreien und wichen entsetzt zurück. Zeternd, schwatzend und tuschelnd stand die Menschenmenge, welche gerade eben noch geduldig auf den Beginn des alltäglichen Glockenspiels gewartete hatte nun wie eine aufgeregte Vogelschar beisammen.

Ude selbst wurde plötzlich von einer Angst ergriffen, welche so stark war, wie eine Naturgewalt. Sie legte sich über ihn und hielt ihn fest umklammert. Was war passiert? Was geschieht hier schoss es ihm eiskalt durch den Kopf. Ein gewaltiges Chaos brach aus. Er hörte die ersten hysterischen Schreie der Menge unter ihm. Er blickte neugierig um sich. Die Menschen starrten zu ihm hoch und viele deuteten auf ihn. So manch einer kniete aber auch nieder und bekreuzigte sich eiligst.
War das am Ende etwa alles nur ein Traum? Er war doch gerade eben noch mit seinem Leibarzt auf dem Weg in dessen Praxis gewesen. Völlig verdutzt blickte er wieder nach unten.
Und tatsächlich. Da unten konnte er deutlich erkennen wie jemand mit beiden Armen aufgeregt zu ihm hoch winkte. Das konnte nur Dr. Mandarin sein.
„Doktor… was geschieht mit mir… was ist passiert… ist die Welt nun komplett verrückt geworden…?“ schrie Ude.
Seine Stimme klang jedoch sehr laut, wenn nicht gar bedrohlich. Kein Wunder, denn er war inzwischen so groß wie der Münchner Rathausturm. Fünfundachtzig Meter hoch. Ein Riese in Menschengestalt. Ein wahrer Titan. Wie er so da stand, sah er doch beinah tatsächlich so aus, wie einer von den sagenhaften zwölf Titanen, entsprungen aus dem ältesten griechischen Göttergeschlecht von Gaja und Uranos.

Erneut brach allgemeine Panik aus, da Ude einmal kurz mit dem nackten Fuß aufstampfte. Der Boden begann zu zittern. Staubwolken wirbelten auf. Die aufgeregten Menschenmassen rannten daraufhin in alle Himmelsrichtungen davon. Sie stoben auseinander, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.

„Das ist doch unmöglich…!“ rief Dr. Mandarin völlig staubbedeckt und starrte wieder nach oben, bis er es doch lieber vorzog, selbst in Deckung zu gehen. Er stellte sich, wie viele andere auch unter die Arkaden der Gaststätte – Zum Donisl.
Von den gewaltigen Auswirkungen seiner unbeabsichtigten Bewegung selbst auf das Höchste erschrocken überkam Ude nun die Einsicht sich nur noch mit äußerster Vorsicht zu bewegen. Er musste ja nun über ein immenses Gewicht verfügen. Jede kleinste Bewegung konnte somit ein gigantisches Werk der Zerstörung nach sich ziehen. Aber gleichzeitig überkam ihn trotz seiner Größe und Stärke ein Gefühl der totalen Hilflosigkeit. Das Münchner Stadtoberhaupt blickte nun ängstlich mit einem Gesichtsausdruck des ungläubigen Nichtbegreifens um sich.

Und über ihm thronte erbarmungslos die Maisonne. Sie stand wie ein behäbiges Glutrad am weißblauen Himmel. Es war nun Mittagszeit und es war knüppelheiß. Langsam wurde ihm klar, dass hier anscheinend etwas passiert war, was normalerweise einfach nicht passieren konnte.
Von allen Seiten war plötzlich lautes Sirenengeheul zu hören. Die ganze Stadt war inzwischen auf den Beinen. Tausende rannten zum Marienplatz. Einsatz Hundertschaften der Polizei versuchten verzweifelt, sich einen Weg durch die riesigen Menschenmassen zu bahnen. Einige kamen tatsächlich durch. Sie standen schließlich auf dem Marienplatz und starrten fassungslos zu Ude hinauf. Aufgeregt fuchtelten sie mit ihren Funkgeräten.
„Ich fass es nicht… ist das echt oder wird hier versteckte Kamera gespielt?“ rief einer von ihnen.
„Nein, ich glaube das ist echt. Das ist unser Bürgermeister!“, stieß ein anderer hervor. „Informieren sie sofort den Katastrophenschutz und vor allem den Polizeipräsidenten… aber schnell!“ schrie jemand aufgeregt. Alle waren wie vor den Kopf gestoßen. War das etwa am Ende ein Terrorangriff? Ein unbeschreibliches Chaos breitete sich aus. Schließlich wurde der Marienplatz geräumt und abgesperrt. Ordnung musste schließlich sein.

Die wogende Menge stand dicht gedrängt. Die Panik, ja die Hysterie hatte sich aber mittlerweile schon wieder etwas gelegt. Schließlich war es ja Münchens Oberbürgermeister der hier stand und nicht etwa irgendein Monster oder Zyklop. Verwunderung, Staunen und auch etwas Mitleid machten sich allmählich breit. Die Menschen schienen plötzlich zu begreifen, dass sie hier Zeugen eines einmaligen Ereignisses wurden, welches normalerweise einfach unmöglich war. Alle starrten angestrengt zu Ude hinauf. Und es wurden immer noch mehr.
Die ersten Kamerateams eilten herbei. Handys wurden gezückt und übertrugen das Unfassbare sofort ins Internet. Gleichzeitig wurden die Menschen auch über Rundfunk und alle Fernsehstationen eindringlich gebeten die Münchner Innenstadt zu auf jeden Fall zu meiden. Stattdessen wurde empfohlen die Landeshauptstadt möglichst weiträumig zu umfahren. Im Innenministerium befürchtete man bereits die Menschenansammlung aufgrund der stetigen Zunahme bald nicht mehr kontrollieren zu können.
Über Twitter ging dieses unglaubliche Ereignis natürlich sofort um den gesamten Erdball. Bald tauchten auch die ersten Videos auf Youtube und anderen Internet Plattformen auf. Die ganze Welt wurde in totales Erstaunen versetzt. Es gab also nun wirklich einen Riesen. In Europa. Und zwar in Deutschland im Bundesland Bayern. In München.

Herr Ude überragte nun sogar noch leicht den Münchner Rathausturm. Und beinah direkt vor seinem Gesicht befand sich nun das Münchner Kindl, welches auf der Spitze des Rathausturms befestigt war. Mit weit ausgebreiteten Armen strahlte es ihn an. Nun hatte er also, wenn auch unfreiwillig, den perfekten Überblick über das im neugotischen Stil erbaute Münchner Rathaus mitsamt seinen Innenhöfen, welches man seinerzeit bekanntlich nach den Plänen des Grazer Architekten Hauberrisser, zwischen 1867 – 1909 in mehreren Bauphasen errichtet hatte.

Aber wie konnte es nur geschehen, dass er selbst plötzlich so hoch wie der Rathausturm geworden war. Anscheinend auch noch ohne irgendwelche erkennbaren körperlichen Schäden davon getragen zu haben. Im Gegenteil!
Er fühlte sich wie neu geboren. Ude kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seine Kleidung war zwar völlig zerrissen, aber ihm selbst ging es abgesehen von seinem psychischen Ausnahmezustand – bedingt durch die unvermittelt eingetretene Veränderung der gewohnten Realität – sehr gut. Er fühlte sich um Jahrzehnte verjüngt.
Seine Augen Gelenke und Muskeln waren wieder in bester Ordnung. Er betastete vorsichtig seinen Körper nur um instinktiv festzustellen, das noch alles dran war. Doch dabei wurde ihm auch mit einem Mal schlagartig klar, dass er ja gänzlich unbekleidet da stand, also völlig nackt.
Daraufhin versuchte er einem spontanen Impuls seines Schamgefühls folgend, mit beiden Händen seine Blöße zu bedecken. Doch diese Peinlichkeit war im Grunde ja dadurch auch nicht mehr zu ändern. Darauf kam es nun auch nicht mehr an. Zu skurril, zu schrecklich und unfassbar zugleich war diese mehr als groteske Situation. Ungläubig mit weit geöffnetem Mund blickte er wieder hinab zu den gewaltigen Menschenmassen, welche ihrerseits fassungslos zu ihm hoch starrten.

Münchens Oberbürgermeister stand nun mit dem Rücken zum Rathaus. Zu seiner linken Seite befand sich der Alte Peter. Rechts von ihm die Münchner Frauenkirche. Er blickte weit ins Land hinein bis sein Blick schließlich am wunderbaren Alpenpanorama hängen blieb. Und über ihm spannte sich in aller Unschuld der blaue wolkenlose Himmel.
Ich brauche irgendetwas um meine Blöße zu bedecken schoss es ihm durch den Kopf. Da kam ihm die rettende Idee. Der Kaufhof war doch eingerüstet. In seiner Not beugte er sich nach vorne und griff nach den weißen groben Stoffbahnen die das klobige Bauwerk verhüllten. Vorsichtig ziehend gelang es ihm schließlich den größten Teil des Stoffes behutsam von dem Gebäude zu entfernen ohne dabei allzu viel zu beschädigen. Dennoch krachten einige schwere Eisenstangen und ein Balken mit lautem Getöse zu Boden. Staub wirbelte auf. Die Menschenmenge schrie abermals auf und wich erneut ängstlich zurück.

Mit den langen Stoffbahnen gelang es Ude schließlich doch noch seine Blöße wenigstens notdürftig zu bedecken. Er fühlte sich nun etwas wohler, obgleich die Situation dadurch in keiner Weise besser geworden war. Was würde als Nächstes geschehen? Er musste eine Strategie entwickeln die das Unberechenbare mit einbezog. Eines war ihm jedoch sofort sonnenklar. Er konnte hier auf dem Marienplatz nicht einfach so stehen bleiben. Wo aber sollte er hin?

Er blickte wieder neugierig um sich und sah wie sich eine ungeheure Menschenmasse aus allen Himmelsrichtungen auf den Münchner Stadtkern zu bewegte. Jeder wollte den Riesen natürlich mit eigenen Augen sehen. Innerhalb des mittleren Rings standen Tausende und Abertausende Menschen dicht gedrängt. Die Folge war der totale Zusammenbruch des Münchner Verkehrsnetzes – zumindest auf der Erdoberfläche.
Da erschienen plötzlich der Bayerische Ministerpräsident der Innenminister sowie der Kreisverwaltungsreferent und der Münchner Polizeichef auf der steinernen Brüstung hoch oben auf dem Münchner Rathausturm.
„Herr Ude… was ist denn passiert!“, schrie der bayerische Ministerpräsident mit beiden Armen aufgeregt winkend von der Brüstung des Rathausturms.
„Gute Frage“, erwiderte Herr Ude trocken und zuckte mit den Achseln.
Der Polizeichef schlug daraufhin vor Ude sollte doch erstmal zum Englischen Garten hinüber gehen. Für ihn wären es ja nur ein paar Schritte. Dort hätte er auch mehr Platz und der Untergrund wäre auch nicht so stark unterhöhlt, als wie hier auf dem Marienplatz. Allerdings sollte Ude sehr vorsichtig auftreten, um nur ja nicht einzubrechen.

Der Innenminister stimmte dem Vorschlag zu. Insgeheim bedauerte er allerdings, dass er selbst nicht auf diese Idee gekommen war. Denn in der Tat, was immer hier auch geschehen war, der Marienplatz war eindeutig zu klein für einen Riesen. Auch wenn dieser Christian Ude hieß.
„Wir können ihn doch hier nicht einfach so stehen lassen“, legte der Polizeipräsident nach und fügte eindringlich hinzu:
„Wir müssen etwas unternehmen und zwar sofort!“
Der Chef des Kreisverwaltungsreferats sagte plötzlich nachdenklich: „Er habe erst neulich in einem streng wissenschaftlichen Magazin über die Umkehrung von so genannten molekularen Nano-Strukturen gelesen. In diesem Artikel hieß es sogar, die Möglichkeit, dass ein organisches Lebewesen jederzeit total winzig oder sogar riesengroß werden könne bestehe tatsächlich. Nämlich durch die Bi-Polare Umpolung besagter Nano – Strukturen. Dieser Vorgang könne – wenn einmal aktiviert – in Sekunden geschehen. Dafür gäbe es sogar empirische Belege.

Der Polizeichef erwiderte daraufhin spontan: „Mein lieber Herr Kreisverwaltungsreferent. Was immer auch die Ursache dafür sein mag im Moment ist das alles unwichtig. Zu allererst müssen wir Ude helfen und im Englischen Garten geht das allemal besser als hier auf dem Marienplatz.“
Der Ministerpräsident beendete daraufhin mit einem Machtwort die sich anbahnende Diskussion: „Der Polizeichef hat Recht. Ich stimme seinem Vorschlag zu.“
Anschließend rief er aufgeregt zu Ude empor: „Lieber Herr Ude, was auch immer passiert ist… gehen sie doch zum Englischen Garten hinüber. Wir lassen sie nicht im Stich… keine Sorge!“

Ude überlegte kurz und kam dann zu dem Schluss dem gut gemeinten Ratschlag des bayerischen Ministerpräsidenten zu folgen. Er stimmte zu.
Daraufhin wurde sofort die komplette Räumung der Münchner U-Bahn in die Wege geleitet. Gleichzeitig erging über Lautsprecher die Bitte an die Bürger die Theatiner Straße frei zu machen. Die Menschen kamen der Aufforderung mittlerweile gerne nach. Es musste doch etwas geschehen, das war allen klar.
Außerdem überwog das allgemeine Mitgefühl für den armen Ude. Die anfängliche Panik hatte sich wieder gelegt. Die Mehrheit der Münchner Stadtbevölkerung war ihm ja schließlich seit jeher wohl gesonnen, und das schon seit vielen Jahren.

Seit jenem zwölften September neunzehnhundertdreiundneunzig, als er das erste Mal das Amt des Münchner Oberbürgermeister antrat hatte er stets mit dem richtigen Weitblick dem Mut zur Entscheidung, und nicht zuletzt durch sein großes Stehvermögen die Geschicke der Stadt München in hervorragender Weise gelenkt.
In seiner Eigenschaft als Stadtoberhaupt und Titan wider Willen fasste sich Ude nun ein Herz und sprach zu seinen Bürgern:
„Liebe Münchner. Ich möchte euch bitten mir den Weg zum Englischen Garten frei zu machen. Also die Weinstraße, die Theatiner Straße und den Odeonsplatz! Ich danke euch!“
Anschließend erging erneut über Lautsprecher die Aufforderung an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt München insgesamt in vier verschiedenen Sprachen – nämlich in Englisch, Türkisch, Japanisch und Italienisch – den Weg zum Englischen Garten zu räumen. Einsatzkräfte vom Technischen Hilfswerk räumten daraufhin das gesamte Mobiliar der Fußgängerzone beiseite. Im nächsten Moment ging ein Raunen durch die Menschenmenge. Ude hatte nämlich damit begonnen vorsichtig einen nackten Fuß vor den anderen zu setzen. Er machte kleine vorsichtige Schritte. Ja, er ging auf den Zehenballen – beinahe wie ein Indianer auf dem Kriegspfad – immer darauf bedacht nur ja keine Erschütterung zu verursachen.

Nach einigen Schritten in dieser durchaus anstrengenden Haltung war Ude jedoch bereits an der Maffeistraße angelangt. Als Nächstes betrat er nun vorsichtig die Theatinerstraße. Diese war etwas schmaler und somit musste er noch konzentrierter gehen. Die Dachgiebel der Häuser reichten ihm gerade einmal bis zur nackten Hüfte. Vorne, zwischen Theatinerkirche und Feldherrnhalle schien es dann noch einmal sehr eng zu werden. Doch schließlich erreichte Ude unter dem lauten Jubel der dort wartenden Menschenmenge den Odeonsplatz. Das Ganze war mittlerweile ein derart grandioses und in der Tat noch nie dagewesenes Schauspiel, welches gleichzeitig auch noch live in allen Medien übertragen wurde. Schließlich nahm sich Ude ein Herz und stieg am Cafe Tambosi mit äußerster Vorsicht über die Arkaden. Er stand nun im Münchner Hofgarten. Rechts von ihm befand sich die prächtige Residenz der Wittelsbacher. Ein paar Meter vor seinen Füßen lag der Englische Garten. Ude ging vorsichtig weiter und stellte sich erstmal auf die Harmloswiese. Zu seiner linken Seite befanden sich nun der Dichtergarten sowie das Prinz Carl Palais. Vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika waren vorsichtshalber Soldaten in Panzerspähwagen aufgefahren. Für alle Fälle.

Ude schritt weiter voran. Schließlich stieg er über einige Bäume die den Englischen Garten vom Süden her umsäumten, und erreichte endlich die weitläufige Grünanlage. Während des ganzen Weges wurde er natürlich von Tausenden Menschen begleitet – allerdings in respektvollem Abstand.
Auf der Wiese hinter dem Haus der Kunst angekommen wurde Ude von einer Meute herrenloser Hunde empfangen, die schwankend zwischen Angriff und Flucht, lauthals zu bellen begann. Durch das anhaltende Chaos waren sie wahrscheinlich ihren Besitzern entlaufen. Einen allzu mutigen Köter hätte Ude beinahe unabsichtlich zertreten. Doch dem Vierbeiner gelang es gerade noch in allerletzter Sekunde sich mit einem mutigen Satz in Sicherheit zu bringen.

Außerdem wurde Ude bereits von einer mindestens zwanzig Meter breiten Pressefront, bestehend aus Kamerateams, Fotografen und Journalisten aus aller Welt erwartet.
Und es wurden immer noch mehr. Seltsamerweise war eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Linien-Infantrie-Regiment aus dem achtzehnten Jahrhundert nicht zu leugnen, so akkurat standen die Presseleute beisammen. Warum wusste keiner. Vielleicht hatten sie aber nur Angst und fühlten sich deswegen in dieser dicht zusammengedrängten Formation einfach sicherer.

Ude schritt nun über den Eisbach. Unter einem schattenspendenden Baum konnte er ja nun aufgrund seiner Größe nicht mehr Platz nehmen, das hätte er nur zu gerne getan. Denn die für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiße Mittagssonne brannte gnadenlos herunter. Daher begann er schrecklich zu schwitzen. Zugleich bekam er großen Durst. Sein Mund war inzwischen völlig ausgetrocknet. Seine Zunge lag wie ein toter schuppiger Fisch in seinem ausgetrockneten Mund. Doch woher Wasser nehmen?
Er schaute hinab auf den in aller Ruhe vor sich hinplätschernden Eisbach, der ihm allerdings wie ein Rinnsal erschien, und steckte die rechte große Zehe hinein. Mehr ging nicht, denn dazu waren seine Füße einfach zu groß.
Schließlich beugte er sich hinab und erfrischte sich. Die Fotografen schossen Bilder was das Zeug hielt. Tausende Kameras filmten den sich nass machenden Riesen. Die Menge schrie mitunter belustigt auf vermied es aber zu nahe an Ude heran zu kommen.
Mit einem Mal kam er sich vor wie Gulliver der Riese, der nach erlittenem Schiffbruch im Lande der Liliputaner gelandet war. Gott Sei Dank aber versuchten seine Münchner ihn nicht zu fesseln, wie es seinerzeit dem armen Gulliver passiert war. Auch schossen sie nicht mit Pfeilen nach ihm. Man bestaunte ihn nur ehrfürchtig. Und zwar vom Jüngsten bis zum Ältesten.

Plötzlich war über dieser unwirklichen Szenerie der infernalische Lärm eines großen Flugzeugs zu hören. Alles blickte in die Höhe. Eine weißblaue Maschine drehte in etwa achthundert Meter Höhe mehrere großzügige Schleifen. Ude stand auf und starrte ebenfalls neugierig nach oben. Er erschrak zutiefst, denn dieses Flugzeug war eindeutig die Air Force One des amerikanischen Präsidenten. Da gab es keinen Zweifel. Er konnte deutlich den Schriftzug – UNITED STATES OF AMERICA – erkennen. Das konnte also nur Obama sein. Am liebsten wäre er jetzt im Boden versunken doch das war ja nun leider nicht mehr möglich.

Musste ihn Obama auch gerade jetzt und in diesem Zustand sehen? Als nackten Riesen. Doch Ude entschied sich dafür die Flucht nach vorne zu ergreifen und winkte nun freudig zu dem Flugzeug hinauf.
Im Inneren der Maschine drückte der amerikanische Präsident seine Nase am Fenster platt. Im atemlosen Tonfall, sichtlich geschockt stieß Obama hervor:
„Mein Gott… wie… wie ist so etwas nur möglich. Ist das Zauberei? Das ist also der Oberbürgermeister von München… er ist wirklich ein großer Mann!“
Auch der Secret Service war sich unschlüssig, wie man mit dieser grotesken Situation umgehen sollte. Man hatte ja schon viel erlebt, aber so etwas war noch keinem der hart gesottenen Agenten jemals vor die Augen oder vor das Zielfernrohr gekommen. Dennoch, ein Anschlag auf den amerikanischen Präsidenten schien es jedenfalls nicht zu sein.

Also holten sie ihre Digicams heraus und drehten noch einige Runden. Denn so wie Ude da stand den rechten Arm zur Begrüßung erhoben wirkte er irgendwie, wenn auch unfreiwillig, wie das bayerische Gegenstück zur amerikanischen Freiheitsstatue. Ein wahrer Titan allerdings nur mit einem knappen Lendenschurz bekleidet.
Auch die Menschenmassen hatten natürlich das Flugzeug sofort als Air Force One erkannt und viele Obama Anhänger winkten enthusiastisch nach oben. Schließlich erteilte der Chef des Secret Service nach Rücksprache mit dem Präsidenten aber doch den Befehl nun den Münchner Flughafen anzufliegen. Die Maschine drehte ab.

Als nächstes landete mit lautem Getöse ein Helikopter hinter dem Haus der Kunst, mitten im FKK Gebiet. Die Nackten wichen ängstlich zurück. Dem Helikopter entstieg der bayerische Ministerpräsident mit seiner gesamten Entourage. Auch Frau Edith von Welser-Ude, die Gattin des Münchner Stadtoberhauptes, war dabei. Beim Anblick ihres zum Riesen mutierten Mannes verschlug es ihr erst einmal die Sprache. Nahe einer Ohnmacht starrte sie nach oben und rang sichtlich nach Luft. Dr. Mandarin der sich auch im Gefolge des Ministerpräsidenten befand hielt ihr sofort ein Riechfläschen unter die Nase, um ihre Sinne wieder neu zu beleben.
„Um Gotteswillen, was hat das zu bedeuten?“ stieß Frau Ude hervor.
„Beruhigen sie sich… was auch immer dahinter steckt wir werden es herausfinden.“
„Das will ich auch hoffen… das kann doch alles nicht wahr sein. Mein armer Mann. Was soll er denn jetzt essen oder trinken. Er wird sicher großen Durst haben?“

„Ja stimmt. Sie haben Recht. Er wird bestimmt großen Durst verspüren noch dazu bei dieser Hitze“, erwiderte Doktor Mandarin ebenso besorgt. Wir müssen unbedingt etwas unternehmen.“
Die Sonne stand nun im vollen Zenit.
Ude hatte natürlich auch sofort seine Frau sowie seinen Leibarzt im Gefolge des Ministerpräsidenten erblickt. Um ihnen irgendwie näher sein zu können, beschloss er sich wieder hinzusetzen. Allerdings nicht ohne vorher genauestens zu prüfen ob sich nicht irgendjemand unter ihm befand. Sei es nun ein Hund oder ein Mensch. Man konnte ja nie wissen. Vorsicht war allemal angebracht. Doch selbst in sitzender Position befand sich sein Kopf immer noch in einer Höhe von etwa vierzig Metern.

Ude richtete nun das Wort an seine Frau:
„Edith… frag mich bitte nicht was passiert ist … ich weiß es auch nicht, aber ich fühle mich merkwürdigerweise um Jahrzehnte verjüngt. Alle meine kleinen Zipperlein sind verschwunden…. sogar mein rechtes Knie ist wieder heil. Auch meine Augen… du kannst es dir nicht vorstellen… ich sehe wie ein Adler… es ist erschreckend schön, aber gruselig zugleich.“
„Ja, aber wie soll das nun weitergehen?“ stieß seine Gattin aufgeregt hervor, „du kannst doch nicht plötzlich so groß sein… das geht doch nicht. Wie willst du dich kleiden? Was willst du essen? Wo wirst du schlafen… wo… wo…?“
Schließlich fiel Frau Edith von Welser-Ude doch noch in eine gnädige Ohnmacht, direkt in die Arme von Udes Leibarzt. Herbei geeilte Sanitäter kümmerten sich sofort um sie.

Angesichts der ungeklärten Lage beschloss nun der Münchner Stadtrat sowie die Bayerische Staatsregierung eine internationale Task Force einzurichten. Mit dieser Aufgabe betraute der Herr Ministerpräsident nach Rücksprache mit dem zweiten Bürgermeister keinen geringeren als Udes Leibarzt. Es lag nun also an ihm ein Team von Spezialisten zusammenzustellen. Dr. Mandarin willigte auch sofort ein. Als erstes ordnete er an Udes persönlichen Referenten sowie Dr. Löffler den Stadtkämmerer zu suchen. Als Stützpunkt der Task Force wählte man das Max Plank Institut für Plasmaphysik in Garching bei München.

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